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KINDHEIT UND JUGEND   1933 – 1951

 

 

Heranwachsen in der Kriegs- und Nachkriegszeit – die Schuljahre im Harz

 

Geboren wurde ich am 6.2. 1933 in Osnabrück, und zwar in einer Hebammenlehranstalt, wie meine Mutter mir sagte. Das Datum sei besonders, denn es war gerade sechs Tage nach der „Machtergreifung“ Hitlers in Deutschland. Die ersten 12 Jahre meines Lebens sind die des nationalsozialistischen „Dritten Reiches“- mit 6 Jahren Kriegsgeschehen. In dieser Zeit meiner frühen Jugend erklangen aus dem Radio Lieder wie „Heute gehört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt!“ Im Kino gab es DIE DEUTSCHE WOCHENSCHAU, die „unsere siegreichen Soldaten“ z.B. im Vormarsch in der Ukraine zeigten, freudig begrüßt von der dortigen Bevölkerung. Wir waren ein Volk in Aktion, ein „Volk ohne Raum“, das nach einem vorherigen Krieg ungerecht behandelt worden war und sich nun sein Recht auch unter Opfern verschaffen musste. So etwa war das Bewusstsein meiner Umgebung in meiner Kindheit. Darauf folgte dann bis zum Schulabschluss die Nachkriegsphase in dem zerstörten Deutschland.

 

Die Familie   
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Meine Geschwister, Bruder Helmut – vier Jahre älter - meine Schwester Gisela – sechs Jahre älter und meine Mutter beherrschten mein Leben. Als die Kleinste erlebte ich die üblichen Freuden und Leiden im gemeinsamen Kinderzimmer, wenn ich etwa an Gesprächen teilnehmen wollte und die Überlegenheit der Älteren zu spüren bekam. Z.B. sprach man über das Körpergewicht und ich trug dazu bei mit dem Ausspruch „Bei mir steht die Waage immer auf 30“. „Aha, dreißig Zentner Ferkel, das bist Du“ war die Replik. Insgesamt hatte es der Junge jedoch schwerer. Nach dem Wunsch des Vaters, eines Offiziers der neu aufgebauten deutschen Wehrmacht, sollte er auf die nationalpolitische Erziehungsanstalt für spätere Führungskräfte (NAPOLA) überwechseln und wurde auf eine entsprechende Prüfung vorbereitet. So sollte er schwimmen lernen und vom Dreimeterbrett springen können als „Mutprobe“. Man fuhr extra mit ihm ins Hallenbad, in meinen Augen eine deutliche Bevorzugung, was meinen Neid und Ehrgeiz entfachte. Offenbar war er wenig als zukünftiger „Held“ geeignet, denn er kam von der nicht bestandenen Prüfung als Gescheiterter zurück und dieses Charakterurteil hat er vermutlich verinnerlicht. Ich denke, es verfolgte ihn im weiteren Leben in ständiger Konkurrenz mit der kleineren Schwester. Unsere große Schwester hatte stets die Aufgabe, für die anderen mit verantwortlich zu sein, was meine Mutter einforderte. Bis heute ist sie für ihre Mitmenschen die stets freundlich Verstehende. Die Familie wurde eindeutig von der Mutter geführt, denn der Vater, Geburtsjahr 1897, war schon im ersten Weltkrieg Soldat gewesen und hatte sich nach einer Zeit der Arbeitslosigkeit 1936 wieder zum Militär gemeldet. Er war daher selten zu Hause und konnte nur in Urlaubszeiten gewissermaßen eine Gastrolle einnehmen. Die Eltern verstanden sich nicht sehr gut, was für uns Kinder normal war und in der politisch turbulenten Zeit keinerlei Konsequenzen für die Institution der Ehe hatte. Später sagte die Mutter öfters: “Ich habe mein Leben geopfert für meine drei Kinder“. Die Rollen waren klar. Und vom Vater konnte man hören „Ich bin ja nur der Dukatenkacker der Familie“.

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Unsere Mutter legte keinen Wert auf soziale Attribute, z.B. wollte sie nicht „Frau Major“ angeredet werden, als mein Vater den Rang erreicht hatte. Sie war 1901 in der Kaiserzeit geboren und wuchs sehr behütet in gut bürgerlichen Verhältnissen in Görlitz/Schlesien auf, wo ihr Vater eine Anstellung als Stadtbaurat innehatte. Als junges Mädchen hatte sie den Ausbruch des Ersten Weltkrieges erlebt und musste die Erfahrung machen, dass die Familie – zu der drei Jahre später noch eine kleine Schwester hinzugekommen war - in keiner Weise darauf vorbereitet war. Und da ihr Vater als preußischer Beamter nicht korrupt war, kam plötzlich der Mangel und Hunger ins Haus – im Verbund mit der damals verbreiteten „vaterländischen Gesinnung“.    

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Die Ehe meiner Mutter war eher das Ergebnis einer zweiten Wahl gewesen. Sie hatte einen Jüngling geliebt, den sie aus dem eigenen Haus kannte. Er war als Freiwilliger in den ersten Weltkrieg gezogen und  sehr bald auf dem Schlachtfeld gefallen. Die Verbindung zu meinem späteren Vater war durch die Eltern und Schwiegereltern hergestellt. Die Familien kannten sich, denn die Männer waren Studienkameraden gewesen – eine zu der Zeit noch völlig übliche Methode. Eigentlich hatte meine Mutter den Wunsch gehabt, nach dem Besuch einer privaten Vorschule und dem erfolgreichen Abschluss der höheren Töchterschule (Lyzeum) eine Ausbildung als Lehrerin zu machen, was ihre Eltern nicht erlaubten, weil ihre schöne Tochter dann in einer ferneren Stadt hätte leben müssen. Das erschien unpassend, da sie ja sowieso heiraten würde. Immerhin setzte sie dann durch, dass sie eine Gärtnerlehre machen durfte – auch das war schon ungewöhnlich für ein Mädchen. So nähte sie sich selbst eine Arbeitshose „damit die Jungen nicht unter den Rock gucken konnten“.

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Die Eheschließung meiner Eltern fand 1923 in Oberhausen/ Rheinland statt, wo die

Schwiegereltern in der Zwischenkriegszeit unter französischer Besatzung lebten.

Man heiratete, um eine Wohnung zu bekommen. Auf dem Erinnerungsfoto sieht man

den Bräutigam in seiner Uniform des ersten Weltkriegs.

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Die damalige Zeit stand in krassem Gegensatz zu der Epoche von Mutters Jugend. Sie war durch Unsicherheiten geprägt. Die Eltern der Braut hatten jahrelang für ihre Aussteuer gespart – und wegen der dann einsetzenden rasenden Inflation war der Geldbetrag dermaßen geschrumpft, dass gerade mal eine Nähmaschine dafür angeschafft werden konnte. Selbige liebte unsere Mutter sehr und benutzte sie auch als nützliches Werkzeug in den folgenden Jahrzehnten des Mangels. Während meiner ganzen Kindheit und Jugend hindurch galt diese „moderne, versenkbare Tisch-Nähmaschine“ als besonders wertvoll, sie machte die Umzüge mit und wurde sehr gepflegt.

Unsere Mutter konzentrierte ihre ganze Energie auf die Aufzucht ihrer drei Kinder. Sie war extrem sparsam. Dabei waren durchgehend zwei Prinzipien vorherrschend: Gesundheit und Bildung. Es kann wieder schlechte Zeiten geben, das hatte sie selbst erfahren und deshalb durfte nichts verschwendet werden, seien es Lebensmittel oder Kleidung. „Wissen ist Macht“ war zudem ihr Wahlspruch, den sie seit dem Untergang des Kaiserreichs beibehalten hatte. Sie verband das mit der Überzeugung, Äußerlichkeiten würden nur von Wichtigerem ablenken, sei es im HHHaus oder bei den Menschen. „Man muss nicht eitel sein und man macht sich nicht schick!“ hörten wir öfters aus ihrem Munde. Mein Vater, der schon im ersten Weltkrieg als junger Fähnrich zur See die Offizierslaufbahn ergriffen hatte, war deutlich anders orientiert. Er liebte seine Uniformen, hatte in der Familie aber wenig Einfluss, zumal er als Soldat ja selten anwesend war.

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Hamburg – Königsberg – Bad Lauterberg

In meiner frühen Kindheit lebten wir in Hamburg Bergedorf, Am Baum 1. Diese Adresse vergesse ich nie, vermutlich wegen ihrer Einfachheit.

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Im meiner Kindergarten- und Einschulungszeit 1939 war der Vater bei der FLAK (Fliegerabwehrkanonen)  stationiert. Der Luftkrieg hatte begonnen und wir Kinder sammelten morgens die glitzernden Granatsplitter auf der Straße auf und bewahrten sie in kleinen Kästchen, um uns an den bizarren Formen und Farben zu erfreuen und sie anderen zu zeigen. Ich wechselte vom Kindergarten in die Schule über und bekam eine hübsche Fibel. Die Buchstaben waren altdeutsch („gotisch“), die Inhalte der Texte kindgemäß und der NSDAP entsprechend politisch ausgewählt.

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Wenige Jahre später wurde in der Schule die lateinische Normalschrift eingeführt, die meine Schwester schon im Zusammenhang mit ihrem Englischunterricht erlernt hatte.

 

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Wegen der stärker werdenden Luftangriffe, beschlossen die Eltern, dass wir für einige Zeit zu „Tante Annemarie“, der Schwester unserer Mutter, nach Königsberg fahren sollten. Dort bin ich dann ins zweite Schuljahr gekommen. Bald nach Beginn der Russlandoffensive musste das Schulhaus als Lazarett dienen, sodass der Schulunterricht stark beeinträchtigt war und wir uns im Frühsommer schließlich auf einer grünen Wiese versammelten. Nun stand eine weitere Umzugsreise an. Mutter mit den drei Kindern reiste im Sommer1941 in der überfüllten Eisenbahn wieder in Richtung Westen und kam nach mühevollem Umsteigen nach Bad Lauterberg im Harz, wo die Schwester meines Großvaters ein Haus besaß. Sie vermietete Zimmer an Kurgäste, um nach dem Tod ihres Mannes ein bescheidenes Einkommen zu haben. Man bedenke, dass es 1941 kaum private Telefone und schon gar keine Handys gegeben hat, sodass die arme Großtante plötzlich und überraschend mit der Unterbringung ihrer Nichte samt drei Kindern konfrontiert war. Ich erinnere mich an ein Zimmer mit 2 Betten, wo abends dann eine Zinkbadewanne aufgestellt wurde, das Wasser kam wohl aus der Küche, die Toiletten waren auf halber Treppe. Mein Bruder und ich fanden die freie Natur, den Fluss „Oder“ vor der Haustür und die bewaldeten Berge so faszinierend, dass wir sofort auf den nahegelegenen „Hausberg“ direkt hinaufstiegen, während die Mutter und die große Schwester mit dem Auspacken der Koffer und der provisorischen Einrichtung zur Unterbringung beschäftigt waren.

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In Bad Lauterberg sind wir dann dauerhaft wohnen geblieben, zwar nicht in dem Haus der Tante, wo mit der Zeit mehr und mehr Einquartierung erfolgte, sodass später in jedem Zimmer ein oder zwei fremde Personen lebten. Meine Mutter hatte sich sofort um eine Familienwohnung bemüht und fand sie im Außenbezirk des Ortes, der „Goldenen Aue“ in einer neuen Siedlung, die für Arbeiter der Rüstungsindustriegebaut worden war.

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Unsere neue Wohnung umfasste eine „Wohnküche“, ein „Elternschlafzimmer“ und ein „halbes Zimmer“ sowie eine „Dachkammer“, ein Bad mit Zinkbadewanne samt Boiler sowie eine „Speisekammer“ und anteiligen Kellerraum. In dem 16-Familienhaus der „Zechenstraße“ verlief mein weiteres Leben bis zum Abitur. Der Ort war im Gegensatz zu den deutschen Großstädten bezüglich des Kriegsgeschehens sehr sicher.

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Mit Schuljahresbeginn im Sommer 1941 kam ich in die dritte Klasse der Grundschule des Ortes. Das Gebäude aus roten Backsteinen war 1901 erbaut worden und steht heute noch an seinem Platz in der Ortsmitte und wird entsprechend genutzt.

 

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Der Lehrer, Herr Herbst, erzählte uns, dass man bald den „Führer“ nicht nur aus dem Radio, dem „Volksempfänger“, der in allen Wohnungen präsent war und bei uns in der Wohnküche an der Wand über dem Sofa hing, hören könnte, sondern gleichzeitig dabei auch sehen – eben im Fernsehen. Es dauerte aber noch viele Jahre, bis in Deutschland diese Technik, zumindest für Wohlhabende, erhältlich war – und da gab es Adolf Hitler schon nicht mehr! Aus dem Radio drangen die aktuellen Nachrichten von unseren siegreichen Soldaten an unsere Ohren, und mit den Durchhalteparolen auch die Soldatenlieder, die mir bis heute mitsamt ihren Melodien noch gegenwärtig sind, z.B. „Wir fliegen gegen Engelland, was blühen die Rosen so rot. Wir fliegen gegen Engelland und mit uns fliegt der Tod!“  Dabei war sicher „den Tod bringend“ gemeint, damals dachte ich jedenfalls auch, dass die Flieger abgeschossen werden können – schließlich war mein Vater bei der Flak im Einsatz.

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Im Krieg trat der Unterricht in den Hintergrund. Die Männer waren zur Wehrmacht eingezogen, es gab häufigen Lehrerwechsel, ältere, pensionierte Lehrkräfte, vor allem auch Frauen, standen vor den Klassen mit ca. 40 Kindern. Im 5. Schuljahr bekamen wir eine Deutschlehrerin, die zuvor in einem Kloster gelebt hatte. Die lebenslustigen Schüler lärmten laut. Sie versuchte mit leiser Stimme und sehr gemütvoll Ruhe herzustellen, im Grunde ohne Erfolg. Nicht wenige Schüler schwankten in ihren Gefühlen und Verhalten zwischen Bedauern und Aufmüpfigkeit. Schließlich war unser Alltag durch Anderes als das schulische Lernpensum geprägt. Wir gingen morgens von zuhause los – unser Schulweg war ca. 1,5 km lang, von der Wohnsiedlung in der Aue zur Stadtmitte. Nach der ersten oder zweiten Stunde ertönten die Sirenen: Fliegeralarm, und man ging in den nächstgelegenen Stollen eines stillgelegten Bergwerks, wo schon viele andere Menschen, Groß und Klein, auf provisorischen Bänken saßen – und man wartete auf die „Entwarnung“. Meist war der Schulalltag dann vorüber. Dass die Inhalte der Bildung für uns zweit- oder gar drittrangig waren, ist dabei nur selbstverständlich.

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Mit der Zeit waren die Kriegshandlungen nicht mehr nur als Bedrohungen aus der Luft zu spüren. Die Nachrichten vermeldeten das Näherrücken der Kampfhandlungen auf das deutsche Staatsgebiet. Anfang 1945 merkten wir das konkret, indem deutsche Soldaten z.B. Skier von Privathaushalten einsammelten - und Fahrräder. In der Endphase, am 8. April, hatte Hitler den Harz wie andere Orte auch, zur „Festung“ erklärt, und so wurde der Kampf ganz hautnah in den Ortschaften ausgetragen. Zu der Zeit hatte meine Mutter einen Kellerraum durch Stützpfeiler und Sandsäcken vor den Fenstern einsturzsicherer gemacht und wir verbrachten Stunden um Stunden in dem Raum, nachts- und tagsüber. Es war sehr eng, man kauerte sich auf einen Sitzplatz und ging nur hinauf in die Wohnung zur Toilette.

Inzwischen war auch meine Schwester, die in den Reichsarbeitsdienst in Thüringen abkommandiert worden war, nach langen Fußmärschen zu uns gestoßen – und zudem war meine Tante Annemarie mit ihren drei Kindern aus Königsberg geflohen und hatte im Nachbartrakt unseres Hauses ein Dachzimmer bekommen. Das Vorrücken der „Feinde“ in das Gebiet des „Deutschen Reiches“ wurde immer realer, das Ende des Krieges als ein verlorener unvermeidlich und man wartete gespannt, wann die fremden Soldaten, und zwar die westlichen oder die russischen, unseren Ort erreichen würden. Durch Hörensagen verbreiteten sich die Nachrichten und auch wusste man von dem Befehl, dass die deutschen Verteidiger alle Brücken hinter sich sprengen sollten. Schließlich befand man sich in einem „totalen Krieg“, der von dem Reichspropagandaminister Goebbels im Berliner Sportpalast im Februar 1943 ausgerufen worden war. (Wollt ihr den totalen Krieg? Hatte er gefragt, und die begeisterte Menge hatte JA geschrien.) Zwei Jahre später gab es dann nur noch bange Erwartungen darüber, wie das Ende wohl aussehen werde.

 

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Das Kriegsende, April 1945
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Vor dem Einmarsch der gegnerischen Soldaten gab es in unserem Ort zwei Ereignisse, an die ich mich erinnere. Zum einen war es der Angriff eines Tieffliegers auf eine Menschenansammlung, - das war eine Schlange vor dem nahen Brotladen – wobei ca. 40 Wartende starben. Darunter war auch eine Klassenkameradin meines Bruders gewesen. Die Lufthoheit war zu der Zeit den Deutschen schon völlig verloren gegangen. Ich meine, in der Straße später einen stehen gebliebenen deutschen Panzer gesehen zu haben. Wenn dem so ist, könnte der Tiefflieger ja auch ein militärisches Ziel angenommen haben. Das andere Ereignis war der Artilleriekampf der Kriegsgegner, wobei die Positionen über unser Tal hinweg auf den Bergen lagen. Man konnte die Abschüsse und die Einschläge jeweils akustisch verfolgen. Sehr erschreckt waren wir aber, als ein Geschoss offensichtlich nicht die gewünschte Reichweite erreichte, und in unserem Haustrakt einschlug, genauer gesagt, sogar durch das Dach in unsere Wohnung im ersten Stock einschlug, zum Fenster austrat, im Steinhaufen des kleinen Gartens hinterm Haus landete und manche Steine dann in unser Zimmer geflogen waren. Die Löcher in der Wand und Zimmerdecke haben wir danach mit Schaudern inspiziert. Zum Glück waren wir zu der Zeit im Luftschutzkeller gewesen.

Unvergesslich ist auch die Szene, als die Soldaten – es waren nun die amerikanischen – schließlich in der Eingangstür unseres Kellerraumes erschienen. Alle waren sehr aufgeregt. Meine Mutter im Trainingsanzug schrie „WIVES AND CHILDREN“ und hatte meinen Bruder in eine möglichst weit vom Eingang gelegene Ecke verwiesen. Denn mein Bruder war sehr groß gewachsen und hätte mit seinen 16 Jahren eigentlich schon als Helfer bei der Armee sein sollen, was die Frauen für ihn und den gleichaltrigen, aber deutlich schmächtigeren Cousin, gerade noch hatten verhindern können. Die Soldaten mit vorgehaltenen Waffen – unter ihnen auch ein Farbiger – fanden unsere Gruppe offenbar nicht so gefährlich und zogen weiter. Stunden zuvor hatten die Frauen damit begonnen, die wichtigsten Papiere ihrer Männer mithilfe eines mit Petroleum funktionierenden „Bunsenbrenners“ zu vernichten. Der Mann meiner Tante war ein hochrangiger Nazi gewesen, und weil das Verbrennen seines Ausweises nicht schnell genug erfolgte, hat meine Tante tatsächlich das Dokument mit Foto und Metallsiegel zerkaut und heruntergeschluckt. Die Erinnerung lässt mich heute noch erschaudern! Warum machte sie das? Schließlich hatten die Familien den Auftrag, bis zum „Endsieg“ die Ausweispapiere sicher aufzubewahren. Mein Vater hatte einen feuersicheren Dokumentenkoffer, den wir jedes Mal in den Luftschutzkeller mitnehmen sollten, was wir natürlich taten. - Wir hörten noch, dass die Brücke über die Oder von den deutschen Soldaten gesprengt worden war, aber ansonsten war für uns der Krieg mit dieser Szene am 13. oder 14. April 1945 vorbei. In anderen Regionen des Harzes wurde bis zum 20. April weitergekämpft, was die Frauen mit großer Sorge erfüllte, denn sie wussten, dass einige Verwandte, von denen man keine Nachricht mehr bekommen hatte, sich in der Gegend aufhielten.

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Langsam traute man sich wieder aus dem Haus und ging der Hauptbeschäftigung, der Besorgung von Lebensmitteln, nach. Daneben aber bestand die Sorge um die Zukunft. Nach der totalen Kapitulation des Dritten Reiches waren alle staatlichen Organe zusammengebrochen. Es folgte die Besatzungszeit der Siegermächte. Auf ihren Konferenzen seit 1943 hatten sie die Leitlinien des Vorgehens nach dem abzusehenden Sieg über Deutschland besprochen.  Sie hatten sich frühzeitig darauf geeinigt, nur eine bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches zu akzeptieren – was den Versuch eines Separatfriedens Hitlers mit Großbritannien ausschloss. Auch war die Westverschiebung Polens schon beschlossen und die Oder-Neiße Linie als endgültige Ostgrenze Deutschlands anvisiert. Bei der Konferenz im Februar 1945 in Jalta auf der Krim wurden die Interessensphären deutlich abgesteckt und für Deutschland der Status einer Pufferzone zwischen Ost und West in Europa ins Auge gefasst. Zudem wurde Frankreich als vierte Besatzungsmacht anerkannt und die Teilungen von Österreich und der Hauptstadt Berlin in Sektoren festgelegt. Die entscheidende Konferenz der vier Siegermächte fand in Potsdam vom 17. Juli bis 2. August 1945 statt und endete mit einem Abkommen, das für die Zukunft des darnieder liegenden Landes richtungsweisend wurde.

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Nun ging es darum, die eroberten Gebiete entsprechend den festgelegten Zonen zu räumen bzw. einzunehmen und zu verwalten. Das bedeutete für uns, die die Grenzziehungen der Teilterritorien nicht genau kannten, große Nervosität und Unsicherheit. Amerikanische Truppen hatten unser Gebiet erobert. Würde es nun in die sowjetische Zone eingegliedert werden, wie es in Thüringen geschah? Das war ein Alptraum, denn man hatte von den Grausamkeiten der Roten Armee gehört und schließlich auch Nachrichten über die erlittenen millionenfachen Verluste der Sowjetarmee und grausame Behandlung der gefangenen Soldaten bekommen. Die Grenze der von den Westmächten besetzten Gebiete zur sowjetischen Zone (SBZ) sollte mitten durch den Harz von Nord nach Süd verlaufen. Bad Lauterberg verblieb schließlich im Westen, der höchste Berg, der Brocken, im Ostteil. Wir waren erleichtert. Somit war der „Eisernen Vorhang“ östlich und südlich von unserem Ort vorgegeben und wir befanden uns all die Jahre in einem „Zonenrandgebiet“. Konkret war Bad Lauterberg damit bis zur Wende 1989 nur ca.7 Kilometer von dem Teil Deutschlands entfernt, der dann 1949 als die Deutsche Demokratische Republik, die „sogenannte“ DDR, gegründet wurde und 40 Jahre Bestand gehabt hat.

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Unser Tal im Südharz war traditionell nach Süden orientiert gewesen, die nächstgrößere Stadt war und ist Nordhausen, wo auch meine Schwester einige Jahre die höhere Schule besuchte. Wir gehörten zu Niedersachsen und zum Landkreis Osterode am Westrand des Gebirges. Das war ein Teilbereich der britischen Zone. Die amerikanischen Soldaten rückten sehr bald ab, was wir kaum wahrgenommen haben. Immerhin waren sie aber so lange in unserem Städtchen gewesen, dass Monate später einige braunhäutige Babys auf die Welt kamen, ein Umstand, den meine Familie moralisch entrüstet kommentierte. Die Empörung kann man heutzutage nur nachvollziehen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die damalige auf eine vaterländische und rassistisch eingeschworene Gesellschaft solche Tatsachen als sittenwidrig ansah und deshalb nur als schockierend und skandalös einordnen konnte. Nach heutigen Maßstäben hätte man die chaotische Situation und die persönliche Not und das Leiden der jungen Mädchen, deren potentielle Partner in den Kriegswirren untergegangen waren, in Betracht gezogen und eine solche Empörungswelle würde auf taube Ohren stoßen.  -  Später wohnte ich dauerhaft in Hessen, genau gesagt in Gießen, was ein Teil der amerikanischen Zone und mit ihrem „DEPOT“ eines ihrer militärischen Zentren war. Man gewöhnte sich an die Gegenwart der Besatzungsmacht, an die fremden Soldaten, ihre Kasernen, ihre Versorgungs- und Wohnbereiche.

 

 

 

Die Nachkriegszeit 1945-51
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Die wirtschaftliche Situation im besiegten Deutschland war allgemein sehr schlecht, besonders schwierig jedoch in der britischen Zone und im Harz. Der Kampf um die wichtigsten Verbrauchsgüter nahm alle Kräfte in Anspruch. Die allgemeine Grundlage dazu war das Tauschgeschäft. Es wurden weiterhin Lebensmittelmarken ausgegeben, jedoch fand man die angegebenen Waren oft nicht in den Geschäften. Alles Lebensnotwendige, auch Kleidung und Brennmaterial war schon in den Kriegszeiten bewirtschaftet und rationiert gewesen, aber nun war auch noch die Organisation zusammengebrochen.  Folglich gehörten auch kreative Maßnahmen jenseits des Legalen zur Normalität. Zum Beispiel sahen wir einmal einige Güterzugwaggons, die auf dem nahen Bahnhof abgestellt waren. Die sportlicheren Jugendlichen kletterten hinauf und warfen allerlei Nützliches, etwa Eierkohlen und auch Butter hinunter. Wer am nächsten und schnellsten war, hatte Glück!      

 

Ich war zum Ende des Krieges im Mai 1945 in die sechste Klasse der Hauptschule vorgerückt und nun, mit der totalen Kapitulation des Staates, fand kein Schulunterricht mehr statt. In dem von Bergen und Wäldern umgebenen Tal von Bad Lauterberg war der Mangel an Nahrungsmitteln noch größer als in den umliegenden Dörfern. Meiner Mutter gelang es, einen Obstgarten am Ortsausgang der „Aue“ zur Nutzung zu bekommen. Die Bäumchen waren noch klein und wir durften die Erde zwischen den Reihen beackern. Angebaut wurden Zuckerrüben, die man dann durch einen Fleischwolf gab und kochte. Sehr nahrhaft! Für die Geschmacksnerven waren sie jedoch eine Zumutung, einfach „grässlich“ schmeckten sie. Das weitere reichlich vorhandene Nahrungsmittel waren Steckrüben, wovon mein großer Bruder zuweilen 6-7 Teller voll zu einer Mahlzeit verzehrte, ehe er ein Sättigungsgefühl verspürte. Schließlich war der Brei nahezu ohne Fett gekocht worden. Brot war rar, und der Aufstrich noch wertvoller. Man stellte selbst „Gänseschmalz“ her, aus Gries mit Majoran-Geschmack.

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Folgerichtig versuchte meine Mutter, ihre größeren Kinder im Nachbardorf Scharzfeld „in Stellung“ unterzubringen. Da wurden sie besser verköstigt. Mein Bruder war bei einem Landwirt, meine Schwester in einem Pfarrerhaushalt. Ich, 12 Jahre alt, machte es ihnen nach, verdiente 10,-- Reichsmark pro Monat neben freier Kost und Unterbringung in einem Haushalt mit drei kleinen Kindern und hatte der Hausfrau zur Hand zu gehen. Die Familie hatte Gänse, und so gab es etwas Nahrhafteres im Kochtopf. Für das Wochenende wurde regelmäßig Kuchen auf großen Blechen im Dorfbackofen gebacken. Wenn wir sonntags frei hatten, kamen wir mit einem leckeren „Fresspaket“ nach Hause und waren sehr stolz! Den einige Kilometer langen Weg nach Hause legten wir zu Fuß zurück.

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Als der Schulunterricht am 1. Oktober 1945 wieder begann – ich war ja noch schulpflichtig - hielt ich es für ausreichend, die zweiklassige Dorfschule um die Ecke für die wenigen Stunden zu besuchen und an meinem Arbeitsplatz zu bleiben. Ich erinnere mich gut, dass wir aus Mangel an Schreibheften auf Zeitungsränder schrieben. Die vorhandenen Schulbücher durften sowieso nicht mehr eingesetzt werden. Einige Monate später, ich denke nach Weihnachten, bestand meine Mutter darauf, dass ich wieder zur Schule in Bad Lauterberg ginge.

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Im September 1945 war unser Vater schon aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft unversehrt nach Hause gekommen. Er war sehr abgemagert und kränklich.

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 Sein Magen konnte das zubereitete Essen nicht verarbeiten und meine Mutter bemühte sich um Abhilfe. Er hatte in der Gefangenschaft vorwiegend von Weißbrot und Wasser gelebt. Auf diesen Zusammenhang geht eine spezielle Ausdrucksweise beim Essen in unserer Familie zurück: wenn der leere, abgegessene Teller mit Brotresten abgestippt wurde, nannten wir das regelmäßig „PW“ (= prisoner of war) machen. Eine Besserung der Verdauungsprobleme des Vaters hat sich dann mit Hilfe von Wasser aus rohen ausgedrückten Kartoffeln ergeben. Dabei ist anzumerken, dass selbst Kartoffeln rar und delikat waren. In unserer Familie gab es eine interessante Variante: wir hatten einen Nachbarn, der auf welchem Wege auch immer, im Besitz solcher Knollen war und diese in seinem Haushalt auch großzügig geschält wurden. Unsere Vergünstigung bestand darin, dass wir die Schalen sehr frisch „erben“ konnten. Man wusch sie, stach die Augen aus drehte sie durch den Fleischwolf und briet sie als Plinsen. Und sie schmeckten deutlich besser als die Zucker- und Steckrübenbreie! 

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Der Schulunterricht direkt nach dem Krieg war durch viele Faktoren beeinflusst und nicht

sehr effektiv. Es mangelte an fast allem, und wenn wir Kinder auch fehlten, war das kein

Drama. Eine meiner wichtigsten Beschäftigungen zu der Zeit war das Hamstern oder Betteln

gehen.  Ich hatte eine Schulkameradin, die auch Helga hieß. Wir fuhren mit der Eisenbahn,

den lokalen Zügen, die immer sehr voll waren, und deshalb war man froh, sogar im

Bremserhäuschen mitfahren zu können. Ziele waren die Dörfer des dem Harz südlich

gelegenen Eichsfelds. Um dahin zu kommen, stieg man in Scharzfeld und Wulften um

und fuhr in Richtung Duderstadt, nahe der Grenze zur damaligen Ostzone.

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Geld für die Fahrkarten war kein Thema, weil in dem Gedränge sowieso kein Schaffner durchkam. Somit konnten wir die Fahrkarten sogar mehrmals benutzen! In den Dörfern gingen wir von Haus zu Haus und begannen unsere Bitte mit dem Satz „Tante, hab`n se nich `ne Scheibe Brot!“. Insbesondere meine Freundin konnte einen überzeugenden Klageton anwenden. Meine Mutter hatte Beutel genäht, in denen man die Scheiben des üblichen Graubrots (2 oder 3-Pfund schwer) übereinander stapeln konnte. An erfolgreichen Tagen brachte ich dann mehrere solcher vollen Beutel in meinem Rucksack nach Hause. Der Rest der Familie freute sich – und ich war stolz. Natürlich haben wir unterwegs unseren eigenen Hunger gestillt, besonders wenn wir eine belegte Stulle bekommen hatten. Ein besonderes Ziel unserer Gänge war immer die dörfliche Mühle gewesen. Dort durften wir zuweilen verschüttetes Mehl einsammeln, womit allerdings dann auch Milben in unsere Häuser gelangten.

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Oft war es schwierig, am Abend wieder in unseren Wohnort Bad Lauterberg zurückzukommen, ein Problem der Zugverbindungen, und besonders dramatisch aufgrund der Tatsache, dass es in der ersten Besatzungszeit eine nächtliche Ausgangssperre gab. Abends nach 24 Uhr durfte kein Zivilist mehr auf der Straße angetroffen werden. Einmal passierte es, dass wir sehr spät dran waren – und wir mussten im Scharzfelder Bahnhof in einer Unterkunft zusammen mit Bahnarbeitern über Nacht bleiben. Eigentlich eine riskante Situation für zwei zwölfjährige Mädchen. Aber es kam nicht zu Übergriffen und die Mutter war erleichtert, mich am folgenden Tag wohlbehalten wieder zu sehen! Meine älteren Geschwister waren zu solchen Abenteuern nicht zu bewegen.

 

Auch Jahre zuvor schon wollte ich den Vorstellungen meiner Familie entsprechend und in Konkurrenz zu meiner großen Schwester nützlich sein und belobigt werden, So beteiligte ich mich einmal beim Putzen des gemeinsamen Treppenhauses, eine Arbeit, die meiner Schwester oblag. Nach meiner erfolgreichen Initiative hieß es dann: „Das kannst du von jetzt an regelmäßig machen, wenn wir als Mieter an der Reihe sind!“  Das hatte ich allerdings nicht im Sinn gehabt.

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Erziehungsziele
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In der Nazizeit waren die schulischen Erziehungsziele mit den außerschulischen Aktivitäten der Hitler-Jugend gleichgeschaltet. Ein Verbindungsglied waren die „Reichssportwettkämpfe“, die einmal im Jahr stattfanden. Als Mitglied der Jungmädel-Schar trug man Uniform und marschierte zu bestimmten Anlässen durch die Straßen, propagandistische Lieder singend hinter den Hakenkreuzfahnen her.

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Sonntägliche Kirchgänge gehörten in unserer Familie nicht zu den Gewohnheiten, auch Weihnachten nicht.

Allerdings war es üblich, dass die ganze Schulgemeinde sich zum Reformationstag am 31. Oktober in der

Kirche versammelte. Dort hatte mein Bruder mit seinen Alterskameraden zusammen seine feierliche

„Jugendweihe“. Mir steht noch vor Augen, wie die Jungen in Uniform unterhalb der Orgel zum Gruppenbild

aufgestellt wurden.

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Die „Heimabende“ der Hitlerjugend waren verpflichtend, ich empfand sie als sehr angenehm. So konnte ich

mal weg von zu Hause, wo meine geplagte Mutter das Regiment führte und uns ständig zu Sparsamkeit

und Arbeit anhielt.

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Von den Verbrechen der Nazi-Regierung haben wir jüngeren Kinder in der Kriegszeit und lange danach nichts erfahren. Mutter, Tante und Onkel (sogar meine Schwester) wussten mehr, zumindest ahnten sie es, wollten es aber nicht wahrhaben. Stillschweigen war angesagt. Kein Zweifel durfte über die Lippen kommen. Das sei sehr gefährlich wurde uns vermittelt. Man könnte angezeigt und abgeholt werden.

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In den ersten zwei bis drei Jahren nach dem Krieg hatten sich die Lebensumstände grundlegend geändert. Die Umwälzungen waren vor allem auch durch den Zuzug von etwa 12 Millionen Deutschstämmigen bedingt. Es waren Evakuierte, Flüchtlinge und Heimatvertriebene aus den (ehemals deutschen) Ostgebieten. Man lebte zusammengedrängt und das Sozialgefüge in der Provinz war harten Belastungen ausgesetzt. Somit wurde die Versorgungslage zunehmend schlechter. Hinzu kam die Zerstörung des Selbstbildes, als man ungefiltert die Tatsachen über die Massenmorde in den Vernichtungslagern von den Siegermächten erfuhr. Es herrschte das Gefühl des kollektiven Schuldigseins, wobei dann auch Ressentiments der einzelnen Gruppen untereinander aufkamen.

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Die Alliierten hatten für die deutsche Bevölkerung vor allem zwei Maßnahmen vorgesehen:

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  1. Die sog. Entnazifizierung, die Verhaftungen, Einweisung in Internierungslager, sowie die Überprüfung von Ämtern und Einzelpersonen umfasste. Das führte unmittelbar zu sozialer Unsicherheit. Wie würden die Familienangehörigen eingestuft werden, als Belastete oder als Mitläufer? Würden die Lehrkräfte morgen noch zum Unterricht erscheinen? Die Hauptschuldigen und alle, die mehr als nur nominell das Hitlerregime unterstützt hatten, sollten bestraft werden. Und so ergingen wir uns in Spekulationen darüber, was wohl mit uns bekannten Personen geschehen würde. Schließlich stand auch die Frage im Raum, ob man von eindeutigen Fällen abgesehen solch eine Einstufung überhaupt objektiv durchführen kann, Die Praxis zeigte dann, dass es Vielen gelang unterzutauchen und dass die Verwaltung überfordert war. Smit verliefen viele Untersuchungen schließlich imsande.

  2. Die Umerziehung (reeducation) in Hinblick auf eine Fundierung demokratischer Gesinnung. Sie sollte die ganze Gesellschaft, Jung und Alt, einbeziehen, hatte aber ihren Schwerpunkt besonders bei der Jugendarbeit. Konkret ging es m.E. vorwiegend um die Genehmigung von Texten zum Gebrauch an Schulen und um die Förderung internationaler Jugendbegegnungsprogramme. Ich selbst konnte davon in den folgenden Jahren in starkem Maße profitieren. Diese Aktivitäten haben eine starke Wirkung auf mein zukünftiges Leben als Studentin und danach als Hochschullehrerin ausgeübt. – In der sowjetischen Besatzungszone, unserer unmittelbaren Nachbarschaft, hat die gesellschaftliche Umorientierung damals deutlich schneller, umfassender und heftiger eingesetzt.

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Mit der Einführung der Währungsreform im Juni 1948 änderte sich die Versorgungslage bei uns schlagartig. In den Geschäften wurden wieder Waren angeboten, der „Schwarze Markt“ verlor an Bedeutung.

 

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Schulbesuch
 

Meine Schulbildung war unter den gegebenen äußeren Umständen vielen Wechselfällen ausgesetzt und lässt sich letztendlich als sehr defizitär charakterisieren. In Bad Lauterberg war neben der normalen achtklassigen Volksschule eine gehobene Abteilung vorhanden, die nach einer zehnjährigen Schulzeit mit dem sog. „Einjährigen“ abschloss. (Der Begriff geht auf die Dienstpflicht von Soldaten zurück. Er entspricht dem heutigen Realschulabschluss). Nachdem mein Bruder diese „Mittelschule“ beendet hatte, sollte er in Northeim in einer zum Abitur führenden Oberschule seinen Bildungsgang fortsetzen. Das bedeutete für ihn einen Schulanfahrtsweg mit der Eisenbahn, sogar mit einmal Umsteigen in Scharzfeld. Da die Fahrkarten für zwei Geschwisterkinder genau so viel kosteten wie für einen Schüler, schickte man mich sogleich auch nach Northeim zur Schule. Dort gab es für die höhere Bildung noch die Geschlechtertrennung, und so geriet ich in eine reine Mädchenschule, während mein Bruder in einem anderen Gebäude unterrichtet wurde. Ihm gelang der Anschluss an die 11. Klasse nicht und man beschloss, dass er eine Bäckerlehre anfangen sollte. Dafür musste er morgens gegen 4 Uhr aufstehen, was ihm extrem schwerfiel. Unsere Mutter griff helfend ein, indem sie mit dem Besenstil an die Decke klopfte, wo der Junge in der Dachkammer schlief. Mein Vater konnte das nicht gutheißen. Er wollte einen disziplinierten Sohn haben, und so gab es viel Streit im Haus. Gegenseitig fielen oft die Worte „Dein Sohn hat…das und das nicht geschafft“. Auch erinnere ich mich an den Ausspruch des Vaters „Ich kann Dich nur auf den Sattel heben, reiten musst Du selbst!“ Mein Bruder zeigte wenig Initiative und somit wurde aus dem Bäckerberuf auch nichts.

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Mir war freigestellt worden, weiter nach Northeim zu fahren oder wieder in die Mittelschule des Ortes zurückzukehren. Ich wählte die letztere Option, da ich mich als auswärtige Schülerin in der Klasse nicht gut eingelebt hatte, und kam also zurück, nun in die siebte Klasse. Wiederum führte die äußere Situation bei mir zu einer ungewöhnlichen Wende. Denn nach kurzer Zeit konnte ich eine Jahrgangsklasse höher eingestuft werden. Ich hatte stetig gute Leistungen, würde mich aber nach heutigem Sprachgebrauch nicht als „hochbegabt“ einstufen. Vielmehr hatten die Umstände das Übergewicht, und das kam so:

 

Während des Schuljahres wurden mehr und mehr ältere Schüler, nämlich ehemalige Kriegsteilnehmer, in unsere Klasse aufgenommen. Ihnen legten die Lehrkräfte nahe, dass sie bei hinreichend guten Leistungen unmittelbar einen Jahrgang höher aufrücken könnten. Den traumatisierten Jungen fiel das nicht leicht, ich traute mir das jedoch zu, da ich von zu Hause her bildungsorientiert und entfernt von der Front aufgewachsen war und dem Unterrichtsgeschehen mit wenig Mühe folgen konnte. Mein Anliegen, mitten im Schuljahr die Klasse zu wechseln, trug ich unserer Mutter vor. Sie war nicht dagegen und sodann damit beschäftigt, die zuständigen Lehrkräfte von meinem kühnen Vorhaben zu überzeugen. So kam es zu einem gemeinsamen Besuch bei den zwei älteren Damen, die das Rückgrat des Lehrkörpers die Jahre hindurch gebildet hatten. Diese waren jedoch von dem Ansinnen nicht erbaut und bezeichneten mich als „überheblich“. Immerhin gestatteten sie mir, zeitweise in den Hauptfächern die höhere Klasse probeweise zu besuchen. Im Endeffekt spornte das meinen Ehrgeiz dermaßen an, dass ich dort bleiben durfte. So gelangte ich dann als jüngste Schülerin im Jahre 1948 zur Mittleren Reife. Wie man auf dem Abschlussfoto sehen kann, sind die Mitschülerinnen deutlich weiter entwickelt als ich, die noch Zöpfe trug. In sozialer Hinsicht hatte das Jünger-sein natürlich auch Nachteile, wie meine große Schwester anmerkte.

 

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Die Oberstufe
 

Zu der Zeit war es bei den Lauterbergern auch üblich, vor allem die Jungen, nach Osterode auf die weiterführenden Schulen zu schicken. Ebenso wie in Northeim hatte auch dort noch die geschlechtsspezifische Trennung in der höheren Bildung Bestand. Man erzählte sich, dass die Mädchenschulen zum sog. „Pudding-Abitur“ führten, denn die Lehrpläne waren auf solche Fächer wie Nadelarbeit und Hauswirtschaft ausgerichtet für eine Klientel, die später für Küche und Kinder zuständig sein würde und jedenfalls kein Universitätsstudium anstrebte. Für mich kam folglich nur der Besuch der Jungenschule in Frage. Also wurde ich an der Städtischen Oberschule für Jungen angemeldet und war während der Klassen 11 und 12 das einzige Mädchen in der Klasse. Das war allerdings nicht so einzigartig, wie es klingt, denn vor mir hatte es schon Präzedenzfälle gegeben. Die Töchter des lokalen Zeitungsverlegers hatten dieses Muster vorbereitet.

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Meine Familie machte zu der Zeit nochmal einen Versuch, ihren Sohn doch noch zur Reifeprüfung zu führen und schickte ihn mit mir in die gleiche Klasse mit der Bemerkung, ich könne ihm ja helfen. Er sei eben ein Spätentwickler. (Er war vier Jahre älter als ich.) Natürlich konnte diese gute Absicht nicht zum Erfolg führen, denn unsere Rollen waren gewissermaßen schon eingeschliffen.

Im Laufe des Lebens haben mein Bruder und ich uns eigentlich höchst selten direkt gestritten. Seine Grundhaltung lag einfach konträr zu meinen Ambitionen. Es war die der Verweigerung. Und so konnte es nicht ausbleiben, dass er sehr bald auch diese Schule wieder verließ. Er war sicher auch gut „begabt“, wie man damals sagte, hatte aber keine Motivation zum schulischen Lernen und „scheiterte“ konkret beim Verfassen von Aufsätzen im Deutschunterricht. Insgesamt war er in der von weiblichen Personen dominierten Familie vollkommen passiv geworden und schien kein Ziel in seinem Leben zu verfolgen.  - Zu der Zeit war auch das Verhältnis meiner Eltern zueinander schon stark gestört und lief auf eine Trennung hinaus. –

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Ich konnte im Klassenverband mit den zum Teil deutlich älteren Jungen -  auch ehemalige Kriegsteilnehmer -  gut mithalten. Vor allem genoss ich die neue Sonderrolle, wenn manche Lehrer den Unterricht mit der Anrede „meine Dame, meine Herren“ begannen. Allgemein wurden die Schüler in dem Alter gesiezt und mit dem Familiennamen aufgerufen; bei mir kam dann noch der Vorname hinzu. Mein einziges Problem bezüglich der Lehrinhalte war das Fach Latein. Ich sollte vier Jahre Lernpensum nachholen, was mir trotz Nachhilfeunterrichts bei einer älteren Dame nur bruchstückhaft gelang. und folglich bildete ich in solchen Stunden dann das Schlusslicht des Klassenverbandes und bekam schlechte Noten. Bei meinem Schulabschluss beneidete ich die nachrückenden Fünftklässler, die mit dem Lateinunterricht im Alter von 10 Jahren beginnen und sogar später dann noch Altgriechisch dazu wählen konnten. Der Mathematikunterricht hingegen machte mir Vergnügen, aber ein Studium dieses Faches wollte ich als Mädchen keinesfalls beginnen.

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Auch in dieser Schulperiode dominieren in meiner Erinnerung heute noch die äußeren Umstände, die damals, als wir um unsere Lebensgrundlagen bangten, vorrangig waren. Unvergesslich ist mir die Ausgabe der „Schulspeisung“, die es nun allgemein gab, gesponsert von den Amerikanern. Das Essen bestand meistens aus Nudeln, die mit Milchpulver gekocht und mit Zucker gesüßt waren. In dieser Funktion konnte ich die weibliche Rolle voll und ganz vertreten. Zudem hatte ich weitere Nebentätigkeiten. Eine bestand darin, Brillen zum Einschleifen nach Osterode zu bringen. Ich holte sie mittags nach der Schule im Optikerladen in Bad Lauterberg ab und brachte sie morgens vor Schulbeginn in ein Fachgeschäft, das über eine Einschleifmaschine für die Gläser verfügte. Nach dem Unterricht nahm ich dann die fertigen Brillen wieder mit nach Bad Lauterberg, lieferte sie bei dem Optiker ab und nahm die nächste Sendung in Empfang. So konnte ich Taschengeld verdienen und hatte eine Abwechslung vom tristen häuslichen Dasein. Auch habe ich jahrelang nach der Schulzeit jüngeren Kindern in Lauterberg und Osterode Nachhilfeunterricht gegeben, der Preis dafür bewegte sich zwischen 1,50 DM und 3,00 DM. Ein besonderer Vorteil bestand darin, dass man mir in den etwas besser gestellten Familien meistens auch etwas zu essen anbot!

 

Wie gelangten wir Schüler nach Osterode, in die Kreisstadt, die 28 km entfernt von unserem Tal am westlichen Harzrand liegt? Natürlich mit der Eisenbahn, wobei die Linienführung ein zweimaliges Umsteigen erforderte, und zwar in Scharzfeld und Herzberg, Bei geringer Zugdichte mussten wir besonders im Winter im Dunkeln zwischen 5.00 und 6.00 Uhr aufbrechen, um rechtzeitig zum Unterrichtsbeginn zur ersten Stunde um 7.45 Uhr erscheinen zu können. Eine nicht geringe Herausforderung! Und häufig genug kam ich, wie andere auch, zu spät und ging zu früh aus der Schule fort. Generell war der schulische Alltag trist und stressig. Als einzig angenehme Unterbrechung ist mir ein Klassenausflug in Erinnerung geblieben.

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Im Frühjahr 1951 konnte ich mit einem mäßigen Zeugnis meine Schulbildung in der Jungenschule abschließen.     

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Wie dem Dokument zu entnehmen ist, reichten meine Kenntnisse für das „Große Latinum“, das auf 6 Jahre Unterricht ausgerichtet ist, nicht aus. Sieben Jahre später unterzog ich mich einer Ergänzungsprüfung im Rahmen des sog. „Kleinen Latinums“, was als Voraussetzung für meine Promotion an der Philosophischen Fakultät der Göttinger Universität galt.

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Hier sei eine ergänzende Bemerkung zu dem Phänomen Latinum angefügt: Heutzutage sollte der Lateinunterricht an deutschen Schulen im internationalen Kontext betrachtet werden, denn er ist bildungspolitisch von besonderer Brisanz. Als zentraler Bestandteil der Gymnasien rechtfertigt er die Sonderstellung dieses Schultyps gegenüber den allgemeinen höheren Schulen und verstärkt die gesellschaftliche Segregation. Auch kann sein Bildungsauftrag durchaus infrage gestellt werden. Ich meine, es wäre mindestens gleichwertig, jedenfalls aber nützlicher für die Heranwachsenden eines Zuwanderungslandes, wenn sie in der Schule mehr theoretische oder auch praktische Kenntnisse anderer lebender Sprachen, u.a. auch der Muttersprachen ihrer Mitschüler, erwerben könnten.

 

Auf dem Gruppenbild der Abschlussfeier sieht man mich als einzige Schülerin in der vorderen Reihe inmitten der Lehrkräfte. Das schicke Kostüm stammte von Verwandten aus den USA , das im Rahmen des Hilfsprojekts Care Pakete zu uns nach Lauterberg kam.

 

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Rückschau: Nationalerziehung
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Ich absolvierte die erste Hälfte meines Bildungsganges unter der Herrschaft der Nationalsozialisten, ausgerichtet auf einen starken „Führer“, die andere Hälfte fiel in die Zeit der Besatzung durch die Siegermächte. Letztere war bei uns geprägt durch Unsicherheiten, Selbstkritik und Zweifel der Erwachsenengeneration. Da alle Kinder in der frühen Schulzeit besonders aufnahmefähig sind, ist es nicht verwunderlich, dass die von uns damals gelernten Gedichte und Lieder einen bleibenden Platz in meinem Gedächtnis eingenommen haben und ich deren Texte heute noch mitsamt den Melodien rezitieren kann. Damals war das auf die heldische Vergangenheit unserer germanischen Vorfahren ausgerichtete deutschkundliche Element nicht nur im Hauptfach Deutsch präsent, sondern durchdrang den ganzen erzieherischen Bereich, inklusive der Heimabende der Hitlerjugend. Ein zukunftsweisendes starkes Lebensgefühl sollte fundiert werden, wenn wir auf der Straße sangen „Wir werden weitermarschieren, wenn alles in Scherben fällt, denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt! “.

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Nach meinem zwölften Geburtstag und dem völligen Zusammenbruch des großdeutsch angelegten Hitlerreiches 1945 gab es für uns natürlich keine Aufmärsche mehr Es herrschten deutlich leisere Töne. Die angeordnete Umerziehung auf demokratische Werte hin konnte mit der vorhandenen Lehrerschaft kaum eine Wirkung bei den Schülern entfalten. Wer hätte auch die Kompetenz und Autorität dazu gehabt und wie hätte diese neue Orientierung der Jugend konkret vermittelt werden sollen ohne geeignete Lehrmittel und geltende Symbolik? Folglich wich man jeglicher politischen Aussage sorgsam aus. Der Geschichtsunterricht durfte laut englischer Militärregierung ohnehin erst wieder im Oktober 1948 aufgenommen werden, und wie wäre er zu gestalten gewesen?

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In dem Besitz meiner Familie befindet sich ein Unterrichtswerk für deutsche Schulen, das während des Krieges in Schweden entstanden ist, mit dem Titel „Geschichte unserer Welt“. Laut Impressum wurde es von dem alliierten Kontrollrat für Deutschland zur Verwendung an Schulen freigegeben und 1947 auf sehr schlechtem Papier gedruckt.

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Verschiedene Wissenschaftler hatten es im Ausland verfasst. Inhaltlich endet es mit dem Jahr 1889. Dabei handelt es sich um eine ausführliche Bestandsaufnahme, ohne jegliche methodisch - didaktische Bearbeitung als Hilfe für Lehrer und Schüler. Wie hätte es auch anders sein können? In allen geisteswissenschaftlichen Fächern konnte man nur auf politisch unbedenkliche historische Textquellen ausweichen. Und so sollten wir uns im Deutschunterricht vor allem die klassischen Werke von Goethe und Schiller, den „Faust“ und „Die Glocke“ ins Gedächtnis einprägen, auch wenn wir den Inhalt kaum verstanden. Ich erinnere mich in dem Zusammenhang an die folgende Aussage einer Lehrerin „Ihr versteht das jetzt nicht, diese Schätze der deutschen Kultur können jedoch im späteren Leben nützlich sein, wenn es Euch irgendwann einmal schlecht geht, wie den deutschen Kriegsgefangenen in Russland, die sich an solchen literarischen Quellen aufrichteten“.  

 

Man stelle sich so einen Satz heute in der Zeit des Internets mit der nahezu grenzenlos verfügbaren Datenfülle vor! Oder man denke zum Vergleich an die Erziehungsziele in der Ukraine, wo seit 2014 bzw. 2022 um die kulturelle Eigenständigkeit ein heftiger Kampf geführt wird.

 

Redaktionsschluss Januar 2023

 

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   Rückblick auf Ereignisse nach dem Zweiten Weltkrieg

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Reisebericht unseres Großvaters Dipl. Ing. Dr. Heinrich Küster (1870-1956) über die schwierige

6-tägige Fahrt von Stade nach Görlitz in die sowjetische Besatzungszone.

(25. März bis 14. April 1946, einschließlich der Quarantäne am Zielort).

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Am 12. Februar 1945 war das Ehepaar mit 8 Gepäckstücken nach Bad Lauterberg geflohen und am 13./14. August nach Stade zu Verwandten der Großmutter „Mimi“ weitergereist.

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"Unsere Heimreise nach Görlitz"  

Am 25. März 1946 abends 18.40 Uhr traten wir die Reise an, von Mimi und Hermann Höhmann sowie von dem Bruder Adolf Höhmann u. dem Neffen Ernst Höhmann, die uns beim Gepäck halfen, zum Bahnhof begleitet.

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Mit der Eisenbahn fuhren wir nach Bremervörde, gaben dort am Bahnhof den schwersten Koffer ab u. gingen sodann in die nahegelegene Wohnung des Konditors Dohrmann, der mit Frau u. Tochter einige Tage vorher Höhmanns besucht u. sich bereit erklärt hatte, uns für eine Nacht Unterkunft zu geben.

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In einem warmen Wohnzimmer konnten wir auf Sofas schlafen. Am anderen Morgen um 6 Uhr saßen wir wieder im Zuge u. trafen um 7.40 Uhr in Wesermünde ein. Gegen 10 Uhr dampften wir weiter u. stiegen um 15 Uhr in Station Poggenheim aus. Wagen brachten das schwere Gepäck zum Lager, das nur 500 m. entfernt liegt. Nach unserer Ankunft vergingen viele Stunden mit den Aufnahmeformalitäten, wie Registrierung, ärztliche Untersuchung u. Entlausung (Pulvereinstäubung ins Zeug). Eine unangenehme Überraschung war für uns, dass die Unterkunft von mehr als 3000 Menschen nur in kleinen Zelten bestand. In einem Rundzelt von nur 3,60m Durchmesser mussten 12 Personen auf Stroh hausen. Da wir unser Gepäck zur Sicherheit mit hineinnehmen mussten, hatten wir keinen Platz zum Liegen und verbrachten die Nacht aus unseren Koffern sitzend. Familien mit mehr Gepäck mussten dies draußen lassen u. ständig dabei einen zur Bewachung haben. Die Nacht war sehr kalt um die 10 Grad. Am nächsten Tag war aber sonniges warmes Wetter. Die Verpflegung, für die wir ja 1,50M zahlen mussten war gut, täglich 500g. Brot mit Wurst, mittags eine Grützsuppe mit Fischeinlage.

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Am 27. März abends mussten wir mit unserem Gepäck zum Verladezuge gehen, der dicht am Lager stand. Sehr schwierig war das Einsteigen, weil der Zug ohne ausgebauten Bahnsteig im Dunkeln stand und der Wagenboden in Augenhöhe war. Ein junger Mann leistete uns Hilfe, sonst wäre uns das Einsteigen nicht möglich gewesen. Um 24 Uhr setzte sich schließlich der Zug mit 1600 Insassen in Bewegung u. fuhr die ganze Nacht durch. In der Morgendämmerung kamen wir durch die Stationen Seesen – Osterode – Herzberg, also nahe bei unseren Kindern in Lauterberg. Um 7 Uhr war der Zug am Ziele, er hielt vor Duderstadt auf freier Strecke auf einem Eisenbahndamm von etwa 3m Höhe. Das Aussteigen war unter diesen Umständen äußerst schwierig.

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Wagen und Handkarren hielten auf einem unten entlang gehenden Feldwege. Es gelang mir, den großen Koffer schnell die Böschung hinunterzuschaffen u. in einen Bauernwagen mit Kuhgespann zu bringen u. sagte dem Bauern „ich bringe noch mehr“. Da mir Mimi das übrige Gepäck herausreichen u. ich sie selbst aus dem Zuge heben musste, hatten andere die Zeit benutzt, ihr Gepäck auf den Bauernwagen zu laden. Als wir wieder an den Wagen kamen, sagte der Bauer, er könne nicht mehr annehmen, u. fuhr ab mit unserem Koffer, der unter dem anderen Gepäck lag. So zogen wir nun mit unserem sonstigen Gepäck hinter den abgezogenen Flüchtlingen hinterher, deren Schlange am Dorfeingange, etwa 500m vor der Bahn abstoppte. Nun packte uns die Sorge, wie wir unseren Koffer wiederbekommen könnten.

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Nach Abschreiten der durchs ganze Dorf Gerblingerode sich hinziehenden Wandererschlange von etwa 1 km Länge fand ich schließlich den Bauernwagen und atmete erleichtert auf. Wir konnten alle unsere Sachen aufladen, weil einige Gepäckstücke abgenommen waren. So waren wir für die Wanderung über die Grenze von der Last des Gepäcks befreit. Gegen 12 Uhr waren so viele über die Grenze gezogen, dass wir noch etwa 50 vor uns hatten. Da wurde der Schlagbaum niedergelassen u. es wurde verkündet, dass vielleicht noch am Nachmittag eine Grenzöffnung komme, sonst müssten wir für die Nacht ins Lager Duderstadt, 2,5 km weit, zurückwandern. Bei sonnigem Wetter konnten wir uns auf einer Steintreppe vor dem Hause eines Zigarrenfabrikanten ausruhen. Zu unserem Brotmittagessen brachte uns seine Frau Kaffee heraus u. nachher bekamen wir sogar eine Tasse Bohnenkaffee von freundlichen Rheinländern, die dort mit saßen.

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Auf der Fahrt von Bremervörde her hatte sich uns eine 70jährige Frau Dankwarth geb. Wahlen angeschlossen, die aus ihrer Geburtsstadt Stade nach Rostock zurückkehrte. Nach dem fünfstündigen Stehen am Vormittag bekam sie in der Wanderpause einen Schwächeanfall, der glücklicherweise bald vorüberging. Aber sie war nicht mehr fähig, weiterzuwandern. Wir sorgten dafür, dass sie auf dem Wagen unseres Bauern zu sitzen kam.

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Gegen 15 Uhr wurde die Grenze wieder geöffnet und die Wanderung ging in das russische Besatzungsgebiet. Russen waren zunächst garnicht zu sehen. Irgendwelche Kontrolle fand nicht statt. Erst 500m hinter der Grenze standen 2 russische Offiziere u. betrachteten den Zug. Nach etwa 1 1/2 Stunden trafen wir in Teistungen ein. Die wenigen dort sichtbaren russischen Soldaten machten in Kleidung u. Haltung einen sehr guten Eindruck. Wir wurden in ein großes Gastwirtschaftsgrundstück geführt u. erhielten unser Gepäck ausgehändigt, wofür wir freiwillig dem Bauern 10 Mark zahlten. Auch Frau Dankwarth bekam ihr Gepäck, erkannte aber ein Kartonpaket nicht als das ihrige an und versuchte auf alle mögliche Weise zum richtigen zu kommen, auch durch ausrufen lassen. Als alle Bemühungen nach 1 Stunde noch keinen Erfolg hatten, sagte ich ihr, sie solle doch das falsche Paket behalten, so habe sie doch Ersatz für den Verlust. Als ich dann das Paket näher betrachtete, entdeckte ich daran eine Handgepäcknummer aus Bremervörde und sie erkannte an, dass es doch ihr Paket war. Diese Angelegenheit hatte uns wohl eine Stunde lang beschäftigt.

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Wir mussten dann wieder eine kurze Prüfung auf Läuse vor einem deutschen Arzte durchmachen und erhielten anschließend gegen Zahlung von 2 Mark 2 Pfund Brot und etwas Butter.

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Erst gegen 19 Uhr durften wir zum nahen Bahnhof gehen mit unserem Gepäck auf Handwagen gegen Zahlung von 3,50 Mark. Ich löste 2 Fahrkarten nach Leipzig, da es eine freie Bahnfahrt in der russischen Zone für uns nicht gab. Bei dem großen Andrang der Flüchtlinge nahm die Kartenlösung viel Zeit. Erst gegen 21 Uhr konnten wir mit der Bahn nach Leinefelde fahren in einem Wagen ohne Sitzbänke und Licht, Folgen von Ausplünderung. Glücklicherweise dauerte diese Fahrt nur ½ Stunde. Dort stand noch ein Zug für Flüchtlinge, der nachts nach Halle-Leipzig fahren sollte, aber schon so überfüllt war, dass niemand mehr hinein konnte. Der Bahnsteig war in ganzer Länge von Flüchtlingen mit großem Gepäck besetzt, ein Anblick wie bei unserer Flucht aus Görlitz.

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Wir zogen daher in den Wartesaal mit unserem Gepäck, für das kaum noch Platz zum Abstellen war. Dort erfuhren wir, dass der nächste Zug nach Halle am anderen Morgen um 6 Uhr fahren solle, dass er aber schon um 24 Uhr bereitgestellt werde und man einsteigen dürfe. Das war für uns günstig. Aber Frau Dankwarth hatte den Wartesaal verlassen, ohne uns den Zweck mitzuteilen, und blieb über Mitternacht fort. Da sie im Laufe des Tages schon einen Schwächeanfall gehabt hatte, waren wir in Sorge um sie und Mimi forschte auf dem Bahnhof nach ihr, ohne sie aufzufinden oder etwas über sie zu hören. Nach zweistündiger Abwesenheit kam sie dann wieder und gab als Grund ihres Fernbleibens an, sie habe großen Durst gehabt und außerhalb des Bahnhofs in einer Roten-Kreuz-Küche nach langem Schlangestehen eine Tasse Kaffee getrunken. Im Wartesaal gab es keine Getränke.

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Wir hatten schon vorher festgestellt, dass der Zug eingefahren und der Bahnsteig ganz frei von Flüchtlingen geworden war. So hatten wir durch das Verhalten von Frau Dankwarth die Gelegenheit zum Einsteigen in den Zug verpasst. Da die Luft im Wartesaale schon stickig war, entschlossen wir uns, die Nacht auf dem Bahnsteig an einer windgeschützten Stelle zu verbringen.

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Als wir unser Gepäck hineingebracht hatten, sahen wir den Fahrdienstleiter und klagten ihm, dass der Zug im wesentlichen mit Gepäck angefüllt sei und wir nicht mehr hineingelassen würden. Er fragte: “Im Zuge soll kein Platz mehr sein! In den Zug gehen noch viele hinein. Kommen Sie mal mit“. Wir hatten in den dunklen Abteilen nicht sehen können, wieviel Personen darin waren, er leuchtete aber mit einer Taschenlampe hinein. Wir wurden von ihm in ein Abteil gewiesen, in dem 7 Personen, 3 Erwachsene und 4 Kinder waren, und sagte: „Hier müssen noch 3 Personen hinein“. Für unser Gepäck war kein Platz mehr. Unsere Koffer, auch 1 der Frau Dankwarth konnten wir mit großer Mühe im Klosett unterbringen und unsere Sitzplätze waren äußerst knapp. So verbrachten wir die ganze Nacht.

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Morgens vor 6 Uhr drängten sich dann Leute mit Handkoffern und Rucksäcken hinein, sodass wir auf die Zahl 20 kamen. Wir konnten uns nicht mehr rühren, wir waren buchstäblich eingepökelt. Dazu kam auf jeder Station noch ein fürchterliches Drängen beim Aus- und Einsteigen. Der Zug hielt auf jeder Station. Um 12 ½ Uhr waren wir in Halle und atmeten erleichtert auf, als wir den Rüttelwagen verlassen konnten.

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Zigaretten verschafften uns einen Mann zum Gepäcktragen in den Wartesaal, wo wir Sitzplätze fanden. Eine Gemüsesuppe, die wir dort kaufen konnten und unser Brot war unser Mittagessen. Über die Abfahrt der Züge konnte man nichts bestimmtes erfahren, auch nicht in der Auskunft. Nach Leipzig und nach Rostock sollten die Züge um 14 Uhr vom gleichen Bahnsteig abfahren. Es gelang mir wieder mit Hilfe von Zigaretten einen jungen Mann als Gepäckträger zu gewinnen. Als ich mit ihm in den Wartesaal kam, war Frau Dankwarth mal wieder verschwunden. Wir ließen 2 Koffer nach dem Bahnsteig bringen. Mimi ging mit, um dabei zu bleiben. Ich blieb bei dem übrigen Gepäck im Wartesaal. Als der junge Mann zurückkam, war Frau Dankwarth noch nicht da, erschien aber bald.

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Inzwischen war es 15 Min. vor 2 Uhr geworden. Nun gingen wir 3 zum Bahnsteig, der junge Mann sehr eilig voran, Frau Dankwarth umso langsamer hinterher. Ich musste den jungen Mann im Auge behalten, um Mimi wieder zu finden. Als ich nach Frau D. zurückblickte, sah ich sie in einer falschen Richtung gehen und musste sie heranrufen. Darüber hatte ich unseren Gepäckträger aus den Augen verloren. Als ich die Bahnsteigtreppe hinaufgegangen war, sah ich Frau D. unten an der Treppe. Mimi fand ich am anderen Ende des Bahnsteigs und eilte dorthin mit dem Gepäck. Als ich wieder zurückging an die Treppe, auf der Frau D. heraufgekommen sein musste, konnte ich sie trotz lauten Rufens nicht finden. Schließlich kam sie ganz aufgelöst an, ohne ein Wort sprechen zu können, und ich führte sie zu ihrem Gepäck. Es waren äußerst aufregende Minuten. Da uns gesagt wurde, dass unser Zug nach Leipzig auf einem anderen Bahnsteige abführe, konnten wir uns von Frau D. nur ganz flüchtig verabschieden. Sie war doch in ihrer kindlichen Unbeholfenheit für uns eine große Last gewesen und musste nun auf der langen Eisenbahnfahrt allein fertig werden.

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Als wir dann unseren Zug nach Leipzig gefunden hatten, erfuhren wir, dass er erst in 1 Stunde fahren würde. So hatten wir Zeit und lösten uns Zuschlag 2. Klasse. Der Zug war nicht überfüllt und brachte uns gut nach Leipzig. Dort setzte wieder die Not mit dem Gepäck ein, aber wir fanden schließlich doch einen amtlichen Gepäckträger, eine Sehenswürdigkeit nach der Zerstörung der früher so vollkommenen Bahnhofsorganisation. Ich musste Fahrkarten von Leipzig nach Görlitz lösen. Wir hatten absichtlich nicht von Leinefelde bis Görlitz gelöst in dem Gedanken, wir bräuchten vielleicht nicht in das Quarantänelager, das in Görlitz bestehen sollte, wenn aus unseren Fahrkarten nicht zu ersehen war, dass wir von der Zonengrenze kommen.

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Mit D-Zug, in dem wir guten Platz fanden, trafen wir gegen 19 Uhr in Dresden-Neustadt ein. Dort erfuhren wir, dass der nächste Zug nach Görlitz erst am anderen Morgen um 7 Uhr fahren würde. So blieb uns nichts anderes als die Nacht im Wartesaal zu verbringen, der so überfüllt war, dass ich nicht einmal einen Stuhl bekam, ich musste auf einem Koffer hocken.

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Wir entschlossen uns, den schwersten Koffer nach Görlitz aufzugeben, da ja keine Gefahr bestand, dass er auf der kurzen Strecke ohne Umladung verloren gehen könnte. Dabei kam heraus, dass der Koffer 27 kg wog. Beide Koffer, die ich gestern getragen hatte, wogen demnach zusammen bestimmt 50 kg und auf dem Rücken hatte ich ohne Frage 10 kg getragen, im Ganzen also 60 kg. Das war eine Leistung mit meinen 76 Jahren, die mir sonst gar nicht zum Bewusstsein gekommen wäre.

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Nachdem wir die 5. Nacht ohne Bett verbracht hatten, fuhren wir am 29. März früh 7 Uhr nach Görlitz weiter. Der Zug war so überfüllt, dass wir keinen Sitzplatz bekamen und größte Schwierigkeiten hatten, unser Gepäck in den Zug zu bekommen. Die Fahrt dauerte früher 2 Stunden, wurde aber jetzt so häufig unterbrochen, dass wir erst gegen 13 Uhr in Görlitz eintrafen. Die Fahrkarten wurden uns an der Sperre abgenommen und die Ausgänge der Bahnhofshalle nach der Straße waren verschlossen. Unser Gepäck gaben wir bis auf kleine Stücke als Handgepäck ab.

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Alle Reisenden wurden in eine Baracke geführt zur Untersuchung auf Läuse, das war für uns das dritte Mal. Mit der Abstempelung der Entlausung auf unseren Heimkehrtransportscheinen hofften wir, nun in die Stadt gehen zu können, aber es kam anders. Von einer Amtsstelle, der wir unsere Entlausungsbescheinigung vorlegen mussten, bekamen wir die Anweisung: „15 Tage Quarantäne-Lager“. Das wirkte niederschmetternd auf uns. Bis zum Abrücken ins Lager mussten wir uns in einem Warteraum aufhalten. Neben uns saß eine junge Frau Hahn, die nach Görlitz gekommen war, um eine Stellung am Theater als Obergewandmeisterin (Kostümbildnerin) aufzunehmen. Sie hatte keine Ahnung, dass solche Lager bestanden. Wir hatten doch davon erfahren im Januar, hofften aber, dass sie inzwischen aufgelöst wären.

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Frau Hahn bat, sich uns anschließen zu dürfen. Da sie uns sympathisch war, stimmten wir gern zu. Der Weg zum Lager sollte zu Fuß mit Gepäck zurückgelegt werden. Das sei uns unmöglich, erklärten wir und erhielten die Vergünstigung, mit der Straßenbahn zu fahren bis nahe an das Lager, das vor Weinhübel zwischen dem städtischen Park beim Weinberghaus und dem städtischen Wasserwerk lag. Es umfasste eine große Fläche mit 12 großen Baracken. Frau Hahn war bei uns geblieben.

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Wir wurden zunächst in einem großen Raum zu etwa 100 Personen untergebracht. Es gab dort nur 1 Tisch und 1 Stuhl für die Aufsicht. Wie wir hörten, waren die Möbel im Winter rücksichtslos von den Lagerinsassen verfeuert, weil keine Kohlen geliefert wurden. Ringsum an den Wänden war Stroh geschüttet zum Lagern für uns. Wir richteten uns mit Frau Hahn ein, so gut es ging und kamen so nachmittags um 3 Uhr nach 6 Tagen zum ersten Mal wieder zum Liegen. Verpflegung gab es an dem Tag nicht. Nachher merkten wir, dass ein lebhafter Mäuseverkehr im Stroh vor sich ging. So wurde auch der erste Schlaf nach 6 Tagen noch gestört.

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Am nächsten Tage, 31. März, setzte kostenlose Verpflegung ein, die alle Tage gleich blieb, morgens und abends Kaffee und Brot, täglich 1 Pfund, dazu an einem Tage 10 gr. Butter, am nächsten 20 gr. Zucker, mittags 1 Lt. Kartoffelsuppe, die sehr gut zubereitet war, sodass man sie sich in den 2 Wochen nicht zuwider aß. Da uns Mimi Höhmann eine gute Reiseverpflegung mitgegeben hatte, war unsre Ernährung in der Lagerzeit einwandfrei. Frau Hahn erreichte durch telefonisches Gespräch mit dem Theaterintendanten, dass er sie als unentbehrlich anforderte. So durfte sie schon am nächsten Tag das Lager wieder verlassen unter der Bedingung, dass sie an jedem 2. Tage ärztlich untersucht würde. Wie haben wir sie beneidet! Konnte man nicht grundsätzlich alten Leuten wie uns eine solche Vergünstigung gewähren? Frau Hahn zog sehr vergnügt ab und übernahm es, Frau Rösel zu benachrichtigen, dass wir im Lager seien und sie zu bitten, unser Gepäck vom Bahnhof in unsere Wohnung Blumenstr.92 bringen zu lassen.

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Frau Rösels Schwiegersohn Polizeiwachtmeister Hartmann suchte uns im Lager auf und bemühte sich, uns alten Leuten einige Vergünstigungen zu verschaffen, erreichte aber nur, dass wir beide für uns alleine zur Entlausung mit Brausebad gehen durften und in einem kleineren Barackenbau mit nur 20 Betten eingewiesen wurden, der für Familien mit Kindern bestimmt war, während in den anderen Baracken die Menschen zu 100 bis 130 in einem großen Raum hausen mussten.

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Die Entlausung mit völliger Entkleidung und Säuberung im Brausebad war für uns nach 1 Woche ohne Entkleidung und Körperwäsche eine Wohltat. Während des Bades gingen alle unsere Kleidungs- und Gepäckstücke durch einen auf 100 Grad erhitzten Raum. Unser Einzug in unsere Barackenwohnung war dann eine große Enttäuschung. Die Einrichtung bestand aus rohen hölzernen Bettgestellen, je zwei Betten übereinander, darin Strohsäcke aus Papier ohne irgendwelche Bettwäsche. Aber hier gab es doch Tische und Stühle. Die Einrichtungen für die Morgenwäsche waren höchst mangelhaft, man musste durch einen anderen Raum ins Freie gehen. Die in den 14 Tagen mehrmals wechselnden Mitbewohner des Raumes waren uns zum Teil unsympathisch. 10 Kinder unter 10 Jahren, dabei 3 Säuglinge störten uns besonders nachts durch ihr Geschrei. Die Sauberkeit ließ sehr zu wünschen übrig. Der Raum wurde von irgendeinem Insassen nach Besprengen mit Wasser nur mit einem Reiserbesen ausgekehrt.

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Wir hatten Betten nebeneinander und überdeckten die Strohsäcke mit einem uns von Mimi Höhmann auf Bitten meiner Mimi mitgegebenen bunten Bettbezuge und erreichten durch Zigaretten beim Lagerführer die Zusage, dass die Betten über uns nicht belegt würden, und dies wurde auch eingehalten. Ekelhaft war es, dass bei Wechsel der Bettenbelegung nicht die Strohsäcke entlaust wurden, was bei den vorhandenen Einrichtungen doch sehr einfach gewesen wäre. So wurde man die Befürchtung nicht los, dass man auch noch Läuse bekommen könne von Mitbewohnern, bei denen auch tatsächlich noch Läusenisse gefunden wurden. Außerdem lastete auf jedem die Sorge, es könnte ein Typhusfall im Lager eintreten, der dann Veranlassung geben würde, dass alle Lagerinsassen noch 3 Wochen länger zur Beobachtung bleiben müssten. Aber es ging gut. An Entkleiden für die Nächte war in einer so mangelhaften Unterkunft mit ganz fremden Menschen gar nicht zu denken. Eine nochmalige Entlausung mit Brausebad, obgleich mit vielen Männern oder Frauen zusammen, war daher wieder eine willkommene Reinigung. Zum Schluss der Lagerzeit wurden wir nochmals durch Überblasen mit einem Entlausungspulver behandelt.

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In der Zeit der Lagerhaft haben wir manchen lieben Besuch am Zaun bekommen. Es kamen Frau Rösel, Frau Hahn, Frl. Fischer, Frau Müller, Ehepaar Henschel und Herr Eubel, fast alle mehrmals. Dabei erfreuten sie uns durch kostbare Spenden zur Verbesserung unserer Verpflegung. Frau Rösel, Frau Hahn und Herr Eubel brachten sogar fertige Mittagsgerichte. Besonders überrascht waren wir durch die Fürsorge des Herrn Eubel, der uns eines Tages Täubchen mit Nudelsuppe brachte und auch im Namen seiner Frau uns auf den Entlassungstag zum Mittagessen einlud.

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Der lange herbeigesehnte Tag der Befreiung, der 14.April, war ein Sonntag. Wir hatten Frau Rösel gebeten, uns beim Tragen des Gepäcks behilflich zu sein. So gingen wir durch den Park an der Landskronenbrauerei und dem Blockhaus vorüber nach unserer Wohnung, tief erschüttert durch den Anblick der durch Sprengung von deutscher Seite zerstörten Brücken. In unserer Wohnung, die wir bei einer Beurlaubung aus dem Lager schon gesehen hatten, die uns auch gefiel, nahmen wir eine gründliche Körperwäsche und einen Kleiderwechsel vor. So aufgefrischt begaben wir uns dann zu den lieben Eubels, Kehle 17, und wurden dort in einem behaglichen Zimmer mit einem ganz friedensmäßigen  Mittagsgericht und anschließendem Bohnenkaffee bewirtet. Eine schönere und traulichere Feierstunde zur Heimkehr nach Görlitz konnte es für uns gar nicht geben.

 

Redaktionsabschluss Ende April 2023

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