Linguisticum neben Latinum
Zur Neuausrichtung der sprachlichen Bildung in Deutschland
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Die sprachliche Bildung in der Bundesrepublik muss auf den Prüfstand. Das betrifft sowohl
die entsprechenden Fächer in der Schule als auch die allgemeine Sprachförderung in
Kindertagesstätten. Ein Umdenken ist dringend erforderlich, denn die historisch gewachsene
gegenwärtige Situation verstärkt die Chancenungleichheit und entspricht nicht den
gesellschaftlichen Anforderungen der Gegenwart und Zukunft.
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Zur Begründung im Einzelnen: DIE SITUATION
Die offizielle Sprache der Bundesrepublik ist Deutsch. Sie ist zugleich die Muttersprache der
Bevölkerungsmehrheit. Im internationalen Kontext rangiert sie In der heutigen globalisierten
Welt zweifellos nicht im vordersten Rang. Dort hat sich Englisch als Kommunikations- und
Fachsprache durchgesetzt, sodass auch in der hiesigen Wirtschaft der Gebrauch des
Englischen schon fast normal ist.
Das schulische Bildungssystem hat dieser Tatsache Rechnung getragen und Englisch in
nahezu allen Stufen und Sparten eingeführt bzw. verstärkt. Die Betrachtung des gesamten
Fächers der Sprachlehrangebote zeigt jedoch ein Bild, das den soziokulturellen
Gegebenheiten im Land nicht gerecht wird. Wir finden dort die etablierten
fremdsprachlichen Fächer Englisch, Französisch und Latein als Standardangebot und
weiterhin das Hauptfach Deutsch, das als Muttersprachfach konzipiert ist. Zudem fungiert
Deutsch als Unterrichtssprache im Regelfall.
Die Lehrerbildung ist dieser Konstellation gemäß entwickelt worden, bezogen auf die
Grundschule und die Sekundarstufen I und II. Die Ziele, Gegenstände und Methoden sind
dementsprechend ausgerichtet. Seit den achtziger Jahren wurde zusätzlich das Fach Deutsch
als Zweit- und Fremdsprache DaZ/DaF entwickelt, vorwiegend als „Reparaturmaßnahme“ zur
Vermittlung der notwendigen Sprachkompetenz im Deutschen für den Regelbetrieb in allen
Fächern.
Betrachten wir zu dem gewachsenen Schulsystem und der entsprechenden Lehrerbildung
die Abnehmer, die Nutzer der Einrichtungen genauer, die Kinder und Heranwachsenden, so
kann man eine deutliche Diskrepanz feststellen. Die Grundannahmen stimmen nicht mehr.
Es gibt Unvereinbarkeiten, Bruchstellen. Vieles passt nicht mehr zusammen. Die
internationalen Leistungsstudien zur Lesekompetenz der Viertklässler in Deutschland
belegen dieses Dilemma sehr deutlich, ebenso wie die Tatsache, dass eine wachsende Zahl
Jugendlicher die Schule ohne formalen Abschluss verlässt.
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Das hat sicherlich mehrere Gründe; ein gravierender dürfte jedoch in den inadäquaten
Sprachlehrangeboten der deutschen Bildungsinstitutionen liegen und dem herrschenden
Konzept von Integration, das einen Sprachwechsel der Fremden als notwendigen Teil zur
sozialen Eingliederung und Teilhabe am Arbeitsmarkt vorsieht. Das ist zu einseitig gedacht
und beruht auf einem gespaltenen Begriff von Mehrsprachigkeit: im monolingualen Kontext
des Fremdsprachenerwerbs ist er eindeutig positiv besetzt und bei natürlich Mehrsprachigen
negativ. Typisch ist hier bei Umfragen der Satz: “Sprecht ihr zuhause Deutsch“? Die Mühen
der Integration sollen demnach von den Zuwanderern allein geleistet werden - mit ein paar
Hilfestellungen durch DaF-Angebote. Dieser Ansatz belastet das Erziehungswesen über
Gebühr und ist nicht zukunftsweisend.
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Mein Vorschlag: MEHRSPRACHIGKEIT ERNSTNEHMEN
Vor allem ist hier das Hauptfach Deutsch im Konzert mit den fremdsprachlichen Angeboten
zu betrachten. Die gesellschaftliche Vielfalt im Lande aufgrund der gesteigerten Mobilität
und Zuwanderung, die insbesondere die nachwachsende Generation betrifft, ist eine
Realität. Es gibt mittlerweile nicht nur eine Muttersprache in der BRD. Daher plädiere ich für
ein fächerübergreifendes neuartiges Sprachbildungskonzept in Deutschland für alle
Schülerinnen und Schüler. Der globale Trend mitsamt der Digitalisierung, dem Internet und
der Künstlichen Intelligenz kann diesen Schritt ermöglichen.
Damit werden neben der deutschsprachigen monolingualen Schülerschaft die generell
bilingualen Neubürger als gleichrangige Adressaten des Bildungssystems erachtet, was als
effektiver Beitrag zur Stärkung des demokratischen Gemeinwesens anzusehen ist. Die
nötigen Mühen der Integrationsleistungen beider Seiten werden wirksam unterstützt und
zusammengeführt.
Wie soll das konkret geschehen?
Die Kurzformel lautet: Viele verschiedene Sprachen sollen als Lerninhalte im Curriculum
erscheinen. Ein übergreifendes Sprachverständnis wird angestrebt.
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Gedanken zur MACHBARKEIT
Zunächst ist zu konstatieren, dass die anvisierte Neuausrichtung der sprachlichen Bildung
keine gigantischen Geldsummen erfordert und keinen zeitlichen Vorlauf erfordert.
Vor allem kommt es auf die Einsicht in die Notwendigkeit einer Reform und den Willen zu
ihrer Durchsetzung an. Zweifellos ist dafür eine Menge Überzeugungsarbeit zu leisten, denn
für die beteiligten Sprachlehrinstitutionen, Schulen und ihre Vertreter geht es darum,
liebgewordene Traditionen zu verlassen und sich für die Diversität der Sprachen der Welt zu
öffnen.
Die Realisierung kann zugleich von oben und von unten angegangen werden. Das Wissen
über Sprachen hat die linguistische Forschung bereits erarbeitet und eine wachsende Anzahl
von Menschen in Deutschland verfügt über diverse Muttersprachen. Es sind also humanitäre
Ressourcen bei den Heranwachsenden vorhanden und dementsprechendes Expertenwissen.
Nun haben wir auch die digitalen Werkzeuge, diese Schätze zu heben, denn die Fakten zu
den Einzelsprachen und das theoretische Rüstzeug der allgemeinen Sprachwissenschaft
können unschwer abgerufen werden.
Wie kann das geschehen? Generell muss das pädagogische Personal bereit sein, neuartige
Lernwege für Mehrsprachigkeit zu erkunden. Methodisch muss es um ein gemeinsames
Entdecken und gegenseitiges Lernen gehen. Interesse und Neugier muss geweckt werden,
um eine verstärkte Aufmerksamkeit auf Sprachliches zu richten.
Um eine Überlastung der Erzieher und Lehrkräfte zu vermeiden, könnte die Einführung
zunächst im Zuge des Ausbaus von Ganztagsangeboten und der Neuerstellung von Kitas ins
Auge gefasst werden. Im Sekundarstufenbereich bieten sich Möglichkeiten von
Arbeitsgemeinschaften und Projekten an. Konkret wäre an die vorhandenen Sprachen in der
Region anzuknüpfen und ihre Ausbildung zur schriftsprachlichen Kompetenz der
SchülerInnen anzustreben. Das kann das Engagement der entsprechenden ethnischen
Gemeinden anregen. Zudem muss die freie Sprachenwahl für alle Lernenden offen sein!
Um den Ansatz nicht im Vagen zu lassen, sind auch Formen der Beurteilung von
Schülerleistungen zu bedenken. Im Sinne des weithin bekannten und erprobten
Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen lassen sich Kataloge für
relevante Niveaus erstellen.
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F A Z I T
Die skizzierte neue Orientierung nimmt das Gesamtfeld der Sprachbildung in den Blick.
Anzuschauen ist hier die Rolle des Deutschen im globalen Kontext ebenso wie die
Sprachkompetenz des Einzelnen, die immer aus mehreren Einzelsprachen - inklusive
Dialekten - komponiert ist. Das bedeutet konkret: Elemente der Erst-, Zweit- und
Drittsprachen verbinden sich im Gehirn miteinander und dienen jeweils als Vorkenntnisse.
Der Ausbau der Sprachkompetenzen ist daher interaktiv zu betrachten und das additive
Verständnis beim Lernen weiterer Sprachen als überholt anzusehen.
Lerngegenstände und Lernziele sind neu zu definieren. Neben den Kernfächern Deutsch und
Englisch wäre ein neues Arbeitsgebiet Allgemeine sprachliche Bildung, bzw. SPRACHEN zu
etablieren, in dem weitere freigewählte Sprachen als Unterrichtsgegenstände gepflegt
werden. Dabei mag es sich um vorhandene „Familiensprachen“ oder andere Sprachen der
Welt handeln. Schwerpunkte könnten die Kulturtechniken Lesen und Schreiben bilden oder
auch allgemeines theoretisches Wissen über Sprachen. Im Bereich der gymnasialen
Oberstufe ließe sich sodann neben das vorhandene Latinum eine spezielle Prüfungsleistung
Linguisticum etablieren, die sich als anzuerkennende Vorleistung für
geisteswissenschaftliche Studiengebiete und Berufsfelder anbietet.
Der Vorschlag ist parallel zu dem fachlich übergreifenden Bereich der Politischen Bildung zu
denken, der bereits zur Stärkung der Demokratie und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt
gefordert und offiziell gefördert wird.