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Leitgedanken zur Sprachdidaktik im 21. Jahrhundert
Sprache/n zu lernen ist ein soziales und individuelles Geschehen. Es gibt somit externe und interne Faktoren, die die Vorgänge des Spracherwerbs beeinflussen. Zudem muss man unterscheiden zwischen gesteuerten und ungesteuerten, quasi natürlichen Prozessen.
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Zu den äußeren Faktoren gehören
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Das soziale Klima in der betreffenden Gesellschaft
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Die Interessen des Staates mitsamt dessen schulischen Angeboten
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Die Kommunikation und Bildungsorientierung in den Familien
In Deutschland wird traditionell der monolinguale Lernweg als Normalfall angesehen, wonach die SchülerInnen in deutschsprachigen Familien aufwachsen, gestützt durch Kindergarten und Kitas, sodann muttersprachlichen Unterricht in der Schule erhalten, und mit fortschreitendem Alter Fremdsprachen erlernen können. Dieses Modell muss jedoch weitgehend als überholt bezeichnet werden in Anbetracht der Tatsache, dass aufgrund der Zuwanderung und der demografischen Entwicklung die jüngere Wohnbevölkerung mehr und mehr vielsprachig geprägt ist.
Was ist zu tun? Bislang sieht man die sprachliche Umstellung der SchülerInnen nichtdeutscher Herkunft als einzig mögliche Lösung an. Das pädagogische Konzept von Deutsch als Zweitsprache wurde in den achtziger Jahren entwickelt und später weiter ausgebaut. Mittlerweile ist es auch in der Lehrerbildung etabliert. Das ist m.E. im Alleingang und in seiner Randständigkeit völlig unzureichend und nicht zukunftsfähig.
Nun geistern die Begriffe Mehrsprachigkeit und Vielfalt durch die Bildungslandschaft, ohne bisher grundlegende Veränderungen im Schulsystem und Lernkanon zu initiieren. Im Ergebnis stellt man immer wieder fest, dass die mehrsprachigen bzw. bilingualen SchülerInnen strukturell benachteiligt sind. Die Statistiken zeigen klar: diese Schülergruppen beenden ihre Bildungslaufbahn deutlich öfter ohne Schulabschluss als die einheimischen.
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Anlässe zum Umdenken und Anknüpfungspunkte gibt es zuhauf. Das polarisierende gesellschaftliche Klima weist zudem auf eine besondere Dringlichkeit hin. Stichworte sind hier die latente Fremdenfeindlichkeit und Abschottungsbemühungen von nicht wenigen Bundesbürgern. Zudem hört man den Ruf nach verstärktem Fördern und Fordern. Wem gilt jedoch dieser Apell? Adressaten sind zunächst die pädagogisch Verantwortlichen aus der Seite des Förderns. Sie sollen wohlwollend Hilfestellung geben. Auf der anderen Seite befinden sich die Zugezogenen, die Neuen, von denen man deutlich höhere Anstrengungen verlangt, Sie sollen ihre Zugehörigkeit zur Aufnahmegesellschaft hart erarbeiten, sich halt integrieren. Bedeutet das, dass sie wie die einheimischen Deutschen denken und fühlen sollen, deren im Schulsystem angebotene Kultur und Traditionen zu übernehmen verpflichtet sind? Können wir erwarten, dass die Neubürger ihr herkömmliches nationales Empfinden von Stolz und Scham einfach ignorieren und unseres übernehmen?
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I n t e g r a t i o n wird bislang als ein einseitiges Vorhaben verstanden, basierend auf einem Machtverhältnis zwischen „oben“ und „unten“. Muss jedoch diese Vorentscheidung zwischen dem Richtigen und dem Falschen, dem förderungswürdigen und dem zu unterdrückenden Sprachbesitz als einzig gültig angesehen werden? Oder sollte man vielleicht lieber ein dialogisches Verhältnis auf Augenhöhe anstreben, zumal auch bedeutende Vorteile für die aufnehmende Gesellschaft hervortreten, wenn der beengte Blickwinkel des heimatlichen Raumes erweitert wird? Solch ein Prozess ist nicht kurzfristig zu realisieren. Veränderungen im national konzipierten Schulwesen sind erwiesenermaßen besonders träge und kompliziert, denn Sprachen und Kulturen sind miteinander verwoben. Die Dringlichkeit ist jedoch heute schon offen erkennbar. Schließlich sind die nationalen, auch sprachlich begründeten Verfasstheiten vieler Länder Auslöser für gewaltige Konflikte, die Fluchtbewegungen in Richtung Europa hervorrufen.
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Zwar gibt es mittlerweile ein verstärktes Bewusstsein von der EINEN Welt und Reformen im Bildungswesen werden angemahnt. Sie beziehen sich allerdings vor allem auf den Klimawandel und die Digitalisierung. Die Sprachfächer im Schulwesen sind noch kaum im Blick.
Wie ist die gegenwärtige Situation im Einzelnen?
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Neben dem muttersprachlich konzipierten Fach Deutsch werden weitere europäische Sprachen als Fremdsprachen angeboten. Aufgrund der kolonialen Macht des ehemaligen britischen Empires hat sich das Englische weltweit als internationales Kommunikationsmittel durchgesetzt. Diese Sprache in Deutschland zu lehren ist zweifellos nutzbringend. Mit dem Französischen und Spanischen beschränkt man sich weiterhin auf den europäischen Kontext. Sekundarstufenschüler werden für die jeweiligen Lernangebote umworben. Dazu gibt es noch das altsprachliche Unterrichtsfach Latein, das sich aus historischen Gründen als ordentliches, gut ausgestattetes Schulfach erhalten hat, gestützt durch das humanistisch-klassische und fachsprachliche Erbe und die christliche Religion. Für die mitmenschliche Kommunikation spielt Latein keine Rolle, allenfalls dient es als Distinktionsmerkmal der gebildeten sozialen Schicht.
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Meines Erachtens ist es eine dringliche Aufgabe für die sich beschleunigt globalisierende Welt von heute, Kenntnisse und Kompetenzen zum Verständnis auch an derer, nicht-europäischer Sprachen und Regionen zu vermitteln. Interesse aufzubringen für die Kulturen und Länder, aus denen die Zuwanderer stammen, ist geradezu ein soziales Gebot, denn es führt dazu, deren vorhandenen Sprachbesitz zu respektieren. Für die Einheimischen enthält die dadurch entstehende Distanz zur Eigenen zudem wertvolles Potenzial für den Lernbereich Reflexion über Sprache/Grammatik im Deutschunterricht. So werden Verständigungsschritte angebahnt, die nötige Empathie gegenüber Neubürgern wird gestärkt und die latente Fremdenfeindlichkeit gemildert.
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Schließlich geht es um nichts weniger als das Selbstverständnis von Nationen und Individuen, um stabile Identitäten. Für die einzelnen Zuwanderer kann man hier vielleicht als mögliche Zukunftsform den Begriff eines hybriden Selbstverständnisses einführen, gespeist aus Mitgebrachtem und Neuem. Für die Mehrheitsgesellschaft steht ebenfalls ein neuer Selbstfindungsprozess an, dessen Konturen noch sehr undeutlich erscheinen.
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Aufgrund des vorhandenen Wohlstands und stetigen Wirtschaftswachstums in Kombination mit der rückläufigen Fertilität haben sich Verlustängste entwickeln können, die in dem Slogan von Thilo Sarrazin „Deutschland schafft sich ab“ kulminieren. Damit ist ein Aufruf zur Gegenwehr gegeben. – Doch gegen wen und was soll gekämpft werden? Ein Zurück aus unserer postmodernen und postkolonialen Zeit ist schwer vorstellbar. Die digitalen Informationsnetze und die Globalisierung insgesamt sind nicht mehr wegzudenken und der althergebrachte nationale Rahmen ist auch durch Grenzzäune nicht wieder herzustellen.
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Wie soll das Bildungssystem reagieren??
Ich selbst habe die Hälfte meiner Schulbildung im nationalsozialistischen Deutschland verbracht, als offiziell das einheitliche Großdeutsche Reich propagiert wurde. Der Slogan „Ein Volk – Ein Reich – Ein Führer“ war uns allgegenwärtig. Darauf folgte das desaströse Ende 1945, als Deutschland sich nahezu abgeschafft hatte. Sodann kam die Teilung und die Wiedervereinigung des Landes auf einem verstetigt geschrumpften Territorium. Dieser Staat tut sich mit der Einwanderung nun schwer.
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Ein hohes Maß an Wohlstand wurde erreicht, dabei klagt die Wirtschaft über zunehmenden Fachkräftemangel. Zur Wahrung des Besitzstandes sucht man folglich Menschen auf dem Weltmarkt und lädt sie in die BRD ein. Wird man sie alle samt ihren Familien eindeutschen wollen? Oder wird das Land sich sprachlich und kulturell offener entwickeln? Ein kulturelles Dilemma scheint sich vor uns aufzutun. Ich meine, anstatt gegen Unvermeidliches zu kämpfen, sollte man dem Zug der Zeit folgen und rechtzeitig Pflöcke einsetzen für Veränderungen im Bildungswesen. Es gilt vielmehr „sich neu zu erfinden“, wie es in vielen Branchen genannt wird. Dazu muss der Sprachunterricht einen bedeutenden Beitrag leisten. Die Fachinhalte müssen neu ausgerichtet werden.
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Natürlich können und sollen nicht alle Einwohner polyglott, d.h. vielsprachig sein. Wohl aber ist es möglich, breit gefächert Wissen über Sprachen und verschiedene Kulturen auszubauen. Es geht darum, zunächst eine positive Einstellung zum Sprachenlernen allgemein zu propagieren. Die Dringlichkeit ist zweifellos gegeben. Man bedenke etwa, dass das Arabische als Träger der islamischen Kultur besonders wirkmächtig ist. Schon das allein könnte ein Anreiz für Mitteleuropäer sein, sich damit zu befassen. – Eine Bemerkung am Rande: Hätten die Entscheidungsträger des Westbündnisses und die Ausführenden, die Soldaten, mehr Ahnung von den leitenden Kräften in Afghanistan gehabt, hätte man das Desaster des Abgangs im August 2021 zumindest mildern können.
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Wir haben es offensichtlich mit ganz neuartigen Herausforderungen zu tun, die viel Zeit erfordern. Bevor Bildungsgänge sich ändern, können jedoch bei Schulentwicklungen schon manche Spielräume vorzeitig genutzt werden. Ich denke hierbei an Arbeitsgemeinschaften und Zeitfenster im Ganztagsbereich. Der Vorschlag, Lehrkräfte verstärkt aus der Gruppe der Zuwanderer zu rekrutieren, wird für eine Wende nicht ausreichen, denn man muss diesen Personen eine neuartige didaktisch-methodische Ausrüstung mitgeben. Auch die Vorstellung, dass Kinder, die in der BRD geboren sind, automatisch ins System passen, ist irrig. Vor allem muss die akademische Lehrerbildung ins Auge gefasst werden und damit die Sprachdidaktik an den Universitäten. Hier kann die grundsätzliche Freiheit von Forschung und Lehre, sowie die Selbstverwaltung von Vorteil sein. Sprachfächer, die bislang randständig existieren – sogenannte Orchideenfächer – müssen ausgebaut werden, um vermehrt Expertise zu kreieren. Die Digitalisierung kann sodann für die schnelle Verbreitung und Nutzung sorgen.
FAZIT: Ich plädiere dafür, die innovativen Ansätze zum globalen Lernen, die es schon jetzt in den sozial-politischen Unterrichtssegmenten gibt, auf die Sprachfächer auszudehnen. Dabei sind besondere Hürden zu überwinden; denn die historisch gewachsenen Philologien werden ungern ihren Einfluss im Schulwesen schmälern lassen. Die Antwort auf die Probleme der Zeit kann aber nur ein grundlegendes Umsteuern sein. Es müssen Anreize für die Entwicklung einer neuen allgemeinen Sprachwissenschaft mit didaktischem Charakter geschaffen werden. Sodann wäre es möglich für monolinguale und mehrsprachige Schüler aus einem breiten Fächer von Sprachen auszuwählen, was ihrem individuellen Vorwissen, ihren Interessen und Möglichkeiten entspricht.
Zugespitzt ausgedrückt ergibt das den Slogan
Linguisticum statt Latinum!
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Am Ende wäre damit der von Ingrid Gogolin konstatierte und kritisch bewertete „Monolinguale Habitus“ der deutschen Schule in Teilen überwunden.
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