
NEUSTART IN DEUTSCHLAND 2018/19/20
und ein Blick in die Familiengeschichte
Ich lebe in meinem siebenundachtzigsten Jahr nun dauerhaft in Bad Lauterberg im Harz in der Oderpromenade Nr.2. Das ist mein neuer ständiger Wohnsitz. Eine Grabstelle auf dem lokalen Bergfriedhof ist reserviert. Das Haus ist ein Prachtstück, einhundertzwanzig Jahre alt und seit einhundert Jahren in Familienbesitz. Der Denkmalschutz Niedersachsen hat seine Hand drauf und sorgt dafür, dass der Anblick so und nicht anders erhalten bleibt. In Bad Lauterberg bin ich schon seit meiner Pensionierung 1995 im Einwohneramt registriert, und hier bin ich auch zur Schule gegangen. Völlige Normalität, sollte man meinen, aber dem ist nicht so. Denn seit den fünfziger Jahren war ich praktisch nicht vor Ort wohnhaft, sondern „fern der Heimat“, vorwiegend im Ausland, bis zum 25.3. 2018 in der Türkei. Vor mir lag also ein Neustart in meine alte, jetzt neue Heimat. Keine Kleinigkeit für eine Seniorin!
Meine Rückkehr nach Deutschland, das Verlassen meines langjährigen Wohnsitzes in einem eigenen Haus an der Westküste der Türkei, der Umzug also, war im Vergleich mit den Flüchtlingsschicksalen heutzutage und nach Kriegsende 1945 ein sehr komfortables Unternehmen. Ich hatte den Zeitpunkt fünf Jahre zuvor festgelegt, als ich meinen 80. Geburtstag feierte. So konnte alles gut geplant vonstattengehen. Im Grunde war es dann auch so. Die Gesundheit spielte mit, sogar besser als gedacht, nachdem ich mich einer Knieoperation unterzogen hatte und mich dank physiotherapeutischer Behandlung in den Folgejahren wieder gut zu Fuß und mit dem Fahrrad fortbewegen konnte. Durch die schwierige Organisation dieses Umzugs bekam ich jedoch im Sommer 2017 massive Magenbeschwerden, die sich später wieder beruhigten. „Alles gut“, sagt man heutzutage in Deutschland, „her şey tamam, problem yok“, so klang die Beschwichtigung im türkischen Umfeld.
Der Neustart konnte beginnen, komfortabel war er auch insofern, als die wesentlichen Grundbedingungen für einen geordneten Abgang aus der Türkei gegeben waren. Ich kannte das Land seit Mitte der siebziger Jahre. Nach der Pensionierung 23 Jahre zuvor, hatte ich meinen Lebensmittelpunkt dorthin verlegt. Ich beherrschte die Sprache des Landes, führ ein Auto mit türkischem Nummernschild, besaß ein Haus an der Ägäischen Küste und hatte eine langfristige Aufenthaltsgenehmigung. Alles in Allem ein gutes Zusammenspiel von äußeren und privaten Gegebenheiten. – Wie es dazu kam und wie ich es erlebte, dazu mehr in den folgenden Abschnitten. Dabei war ich all die Jahre noch mit Deutschland verbunden geblieben, verwaltungsmäßig, durch Familienbande und auch durch meinen Beruf. So hatte ich noch über viele Jahre ein Zimmer in Gießen, wo ich an meiner Universität nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst noch 17 Jahre lang Seminare in Form von Blockveranstaltungen gehalten habe. Mein diesbezügliches Engagement ist in der Abteilung Akademisches dargestellt.
An dieser Stelle erscheint es mir geboten, dass ich die großen Linien für das Komfortable meines Umzugs freilege. Ich wurde im Februar 1933 geboren als jüngstes von drei Kindern. Wir sind gemeinsam hineingewachsen in die „Neue Zeit“ des Dritten Reiches. Mein Schuleintritt fiel zusammen mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, womit der Ausnahmezustand zum Normalfall geworden war. Mein Studium und die Familiengründung fanden in der Nachkriegszeit statt. Mein Berufsleben ab 1960 ist nicht – wie bei vielen jungen Erwachsenen heutzutage – als prekär zu bezeichnen, sondern gradlinig verlaufen, trotz oder vielleicht wegen meiner Studienfächer mit dem allgemeinen Teil der Volksschullehrerbildung und dem speziellen linguistischen der Finnisch-Ugrischen Sprachen. So konnte ich in der Aufbauzeit des Wirtschaftswunders eine akademische Karriere machen und erlangte 1972 ohne Habilitation eine Professur „niederen Ranges“. Seit 1995 bin ich emeritierte Hochschullehrerin des Landes Hessen mit einem guten monatlichen Einkommen, habe zwei Kinder, die nunmehr 55 bzw. 50 Jahre alt sind, dazu drei Enkel im studierfähigen Alter und keinen Mann, würde mich allerdings nicht als Witwe bezeichnen.
Meine ökonomische Basis ist also solide. Darauf beruhte auch mein Dasein in der Türkei. Als beamtete Professorin in Gießen war ich mit sehr vielen akademischen Freiheiten ausgestattet, die ich in Forschung und Lehre ausgiebig zu Innovationen im Sprachlernbereich nutzte. So begründete ich in meiner Fakultät das Fach Deutsch als Zweitsprache mit dem Schwerpunkt Deutsch für Türken. – Turkologie war ja Bestandteil meines Zweitstudiums gewesen. In dem Zusammenhang konnte ich über Jahrzehnte zur Türkei, meiner späteren zweiten Heimat, einen guten Zugang bekommen. Eine akademische Zusammenarbeit war dort ausdrücklich erwünscht. Während dessen musste ich meine ökonomische und mentale Basis und Verbundenheit mit Deutschland mithin zu keiner Zeit aufgeben.
In den weiteren Kapiteln wird sich erschließen, wie es dann auch zu einem zweiten, privaten Zugang kam.
Nun etwas zu meinem gegenwärtigen Wohnsitz in Deutschland, mit dem besonderen Bezug zu meiner Kindheit und Jugendzeit. Bad Lauterberg im Harz ist ein kleiner Ort mit vielen Annehmlichkeiten, vor allem guter Luft durch die umgebenden Wälder und Parkanlagen. Es ist ein Kneipp-Kurort mit eigener Geschichte und Tradition, gelegen in einem Tal des Südharzes, das durch den Fluss Oder geprägt ist. Unser Fachwerkhaus liegt an einer Promenade mit insgesamt nur vier Häusern an dieser Straße. Es wurde 1899 erbaut und ist sehr aufwendig in der Unterhaltung und Verwaltung. Auf den verschiedenen Etagen wohnen ständig auch Mieter – eine Person schon seit mehr als 50 Jahren! Meine Mutter hatte durch Erbschaft 25% des Eigentums bekommen, was sie mir später überschrieb mit der Auflage, das Haus fest zu halten, und der Bemerkung, es könnten ja auch wieder schlechte Zeiten kommen. Den Hauptanteil habe ich dann vor 20 Jahren meiner Tante abgekauft, weil deren Nachkommen sich nicht mehr darum kümmern wollten. Mit reichlich Hypothekenbelastung war das möglich. Da meine Mutter in diesem Haus ihren Lebensabend verbrachte, hatte ich auch stetigen Kontakt dorthin und einen formellen Wohnsitz.
Dieser komfortable Umzug hierher – ist das nun eine Heimkehr? Die Antwort lautet „ja“ und „nein“, eher ein Neustart, und das in vielerlei Hinsicht. Meine Familie war kriegsbedingt wegen der Luftangriffe in Hamburg 1939 zunächst nach Königsberg in Ostpreußen zu der Schwester meiner Mutter ausgewichen und dann mit Beginn des Russlandfeldzugs 1941 nach Bad Lauterberg gefahren. Denn da schien das Leben sicherer zu sein.
Hier in der stattlichen Fachwerkvilla lebte die Schwester meines Großvaters als Witwe. Sie vermietete Zimmer an Kurgäste. Allerdings war im dritten Kriegsjahr alles voll belegt und so waren wir als fünfköpfige Familie gezwungen, eine neue Bleibe zu finden. Das gelang meiner Mutter dann auch, und wir konnten in eine kleine Wohnung in der Zechenstraße, im Außenbezirk der Stadt, der sog. „GoldenenAue“, einziehen. Das war in dem 16- Familienhaus einer damals neu errichteten Arbeitersiedlung, die heute noch, nur wenig verändert und renoviert, von der damaligen Baugenossenschaft geführt wird.
Dort in der ersten Etage, der Nr.48, verbrachte ich meine Kindheit und Jugend im Krieg, dort im Keller erlebte ich sein desaströses Ende und die Besatzungszeit bis zum Schulabschluss 1950. Somit ist Bad Lauterberg zweifellos meine alte Heimat und der Ausgangspunkt für mein späteres Leben, das sich dann weitgehend auch im Ausland abspielte. Es waren fast zehn Jahre in Finnland und eine schließlich mehr als doppelt so lange Zeit in der Türkei. Für mich liegen also 70 Jahre zwischen meinem damaligen und heutigen Wohnsitz!
Im Sommer 2019 ist meine aktuelle Situation noch immer geprägt von den Umständen des Umzugs, des Weggangs aus der Türkei und der Ankunft hier, voll von Eindrücken über Erstaunliches in Deutschland. Man kann diese Momente der Verwunderung als Erfahrungen einer Zuwanderergeschichte auffassen. Es ging ja um nicht weniger als die Verlegung eines Lebensmittelpunktes über weite Distanzen, die räumlich, kulturell und politisch zu bewältigen sind.
Das bedurfte eines besonderen Managements. Zunächst musste das Hauseigentum verkauft und der Erlös transferiert werden. Ich hatte Glück. Der Schwiegersohn meiner holländischen Freundin (aus der Parallelgesellschaft) interessierte sich. Er stammte aus demselben Ort, und – was das Beste war – er lebte mittlerweile als Rechtsanwalt in Amsterdam. Somit konnte der Verkauf an einen türkischen Landsmann erfolgen und nach europäischem Standard vor sich gehen. Das ersparte mir das Bangen um die Zahlungsmoral. Es klappte also zufriedenstellend und rechtzeitig. Der Vertrag von 2017 (ohne Notar) enthielt noch das Wohnrecht für mich für ein volles Jahr.
Die offizielle Übertragung der Immobilie im Grundbuchamt war jedoch sehr umständlich, weil
man bei mir aus Altersgründen recht zögerlich verfuhr. Den Vorschriften entsprechend musste
nämlich eine Gewähr für die noch vorhandene Zurechnungsfähigkeit erwiesen werden, und wegen
meines Status als Ausländerin war die Hinzuziehung eines Dolmetschers notwendig. Überdies stellte
man bei der Überschreibung im Grundbuchamt schließlich fest, dass noch eine Hypothek von 1991
in der Akte eingetragen war. Das war mir beim früheren Kauf nicht mitgeteilt worden, und so etwas
ist auch nicht in der entsprechenden Urkunde vermerkt.
Ein anderer Verwaltungsvorgang, den ich vor der Abreise zu erledigen hatte, war deutlich Nerven aufreibender. Ich war in Besitz von Anteilen eines Immobilienkomplexes, der zum Hauptteil meiner Freundin A gehörte, die dort eine Pension führte. Sie wollte damals das Objekt auch verkaufen. Zu dem Zweck musste ich ihr eine Vollmacht geben, da der Ort von meinem Wohnsitz beträchtlich weit entfernt lag und solche Verkäufe oft spontan und kurzfristig vonstatten gehen. Diese Vollmacht war notariell zu erstellen. Zu den notwendigen Unterlagen dafür gehörte nun eine offizielle Bescheinigung über meine Testierfähigkeit – aus Altersgründen. Diese zu erlangen war eine wahrhaft dramatische Prozedur, denn sie war nur in dem lokalen Krankenhaus zu bekommen und ihre Gültigkeitsdauer war auf einen Tag beschränkt.
Der notwendige Test hatte folglich sehr zügig zu erfolgen, damit der Notar noch rechtzeitig tätig werden konnte. Um sieben Uhr früh starteten wir das Unternehmen im Krankenhaus. Dort angekommen, zog man eine Nummer. Um acht Uhr kam der erste Verwaltungsangestellte und nahm das Begehren auf. Um neun Uhr sollte in Zimmer 28 der Test von einer Ärztin durchgeführt werden. Von englischen Ausreisewilligen mit dem gleichen Problem hatte ich erfahren, was in etwa gefragt werden konnte. “Welche Farbe hat ihre Halskette?, welcher Wochentag ist heute?, welcher war gestern?” Das traute ich mir in jeder Hinsicht zu, ein Dolmetscher war nicht erforderlich. Das Warten in der Schlange begann, aber das Zimmer 28 blieb verschlossen, niemand kam bis lange nach neun Uhr. Eine Nachfrage im zuständigen Büro ergab, dass wir bei einem anderen Arzt den Test machen lassen konnten. Also Anstellen an der nächsten Schlange. Irgendwann gegen Mittag wurden wir hereingelassen.
Es war eine Prüfungssituation, wie ich sie seit Jahrzehnten für mich nicht mehr kannte. Folglich war eine Aufgeregtheit gegeben, dazu kam meine Schwerhörigkeit und eine gewisse Unsicherheit im Umgang mit der lokalen Alltagssprache. Immerhin habe ich die erwarteten Fragen zufriedenstellend beantworten können. Dann fiel dem Mediziner mein akademischer Titel auf, welches Fach ich vertrete, wollte er wissen. Ich reagierte sachgemäß, fast entspannt und sagte DİL EĞİTİMİ, eine Übersetzung von “Sprachdidaktik”. Er verstand jedoch das geläufigere DİN EĞİTİMİ (Religionspädagogik) und stellte dann Fragen zum Vatikan in Rom, die ich akustisch nicht klar erkennen und auch inhaltlich nicht zu beantworten wusste. Die Freundin erkannte die sprachliche Verwechslung von DİL zu DİN und geriet in höchste Aufregung. Vor allem hatte sie Angst, dass nun der Test negativ ausgehen könnte. Sie, die auch des Türkischen mächtig war, griff ein und überlegte schon, wie man protestieren könnte. Ich wechselte ins Englische über, das man bei Ärzten in der Türkei auch voraussetzen darf. Somit war meine Position gestärkt.
Der Prüfer war gnädig und unterschrieb das positive Resultat des Tests. Danach mussten noch sieben (!)
Unterschriften besorgt werden, möglichst vor der herannahenden Mittagspause. Es gelang schließlich
im Laufschritt, obwohl eine unerwartete Komplikation eingetreten war: die von mir angegebene
Steuernummer stimmte mit der im dortigen System vorliegenden nicht überein. Also hatten wir einen
Gang zum Finanzamt zu bewältigen – im Taxi. Und dort die Überraschung: mit einem Klick, ohne
Wartezeit und Gebühren konnte man das Problem lösen. Schließlich war ja gerade das Versprechen
des Präsidenten angelaufen, die Verwaltung nutzerfreundlicher zu gestalten. Als Endergebnis bekamen
wir also all diese Stempel und Unterschriften auf das ersehnte Dokument noch rechtzeitig, wobei
jeweils betont wurde, dass man nur aus Freundlichkeit gegen uns Ausländer so zügig arbeitete.
Interessant ist noch zu bemerken, dass wir bei diesem Marathon von Amt zu Amt immer wieder Angelsachsen trafen, die ebenfalls nach jahrzehntelangem Aufenthalt ihren Abgang aus dem Land betrieben. Allgemein hatte sich ein Unwohlsein in der Parallelgesellschaft verbreitet, als die Regierung nach dem missglückten Putsch 2016 mächtige Säuberungsmaßnahmen durchführte. Unter dem Stern standen dann auch meine Bemühungen beim Transport des Umzugsgutes. Ein deutscher Nachbar von mir, der weiterhin noch in Berlin wohnte, hatte mir ein Jahr zuvor angeboten, er würde mit einem Freund in einem Kleinlastwagen eine Art größere Urlaubsreise machen und meine Sachen dabei von Haus zu Haus befördern. Das klang sehr gut. Die Kosten würde ich tragen und für die Verpackung würden sie sorgen. Ich wollte sowieso fliegen. In der Hoffnung lebte ich geraume Zeit, bis dann definitiv die Nachricht kam, dass nunmehr keiner seiner Freunde in die Türkei reisen wollte.
In den Jahren 2017-2018 war der Tourismus aufgrund der politischen Lage in der Türkei allgemein
deutlich zurück gegangen, und ich stand nun vor dem Problem, eine Umzug zu bewerkstelligen.
Ratschläge gab es mehrere. Ich könnte internationale Umzugsfirmen beauftragen, aber dazu war zu
wenig Umzugsgut vorhanden. Das Stichwort lautete dann „Beiladung“. Dafür aber musste alles
verpackt sein, und Raummeterangaben mussten genannt werden. Mit einer türkischen Firma
hatten Bekannte von Bekannten bei einem Umzug von Izmir nach Bamberg gute Erfahrungen gemacht.
Vor einem möglichen Auftrag mussten jedenfalls wichtige Entscheidungen gefällt werden. Welche
Möbel und wieviel von meiner Bibliothek, die fast 40 Meter umfasste, sollten nun mitgehen? Sehr
schwierig war das, vor allem auch bei dem Gedanken an mein geliebtes Fahrrad. Würde es die
große Reise unbeschadet überstehen?
Wie war nun das Problem der Verpackung gelöst worden für einen Transport mit mehreren Umladungen? Für Bücher hatte ich 12 Kisten anfertigen lassen, die ich in Deutschland dann als Baukasten-Regal nutzen konnte. Diese waren schnell mit den wichtigsten Büchern und Papieren gefüllt. Ich begann weiterhin zu packen mit Kartons, die noch von früheren Zeiten auf dem Boden vorhanden waren. Jedoch, bei Nr. 19 verließen mich die Kräfte. Ich suchte Rat. Von Deutschland her bekam ich gesagt „Du wirst doch wohl ein paar kräftige junge Männer in der Nachbarschaft finden, die dir helfen können“. Ja, aber…Das Problem, man hat dort keine Erfahrung mit solchen Umzügen. In der türkischen Provinz werden die Sachen auf einen offenen Lastwagen gebracht und mit Freunden am Zielort ausgeladen. So war auch mein Umzug von Ankara 18 Jahre zuvor von statten gegangen und so werden auch sonst Möbel und Aussteuertruhen transportiert. Kurz gesagt, Helfer gibt es genug, aber mein Umzugsgut hätten sie nicht sachgemäß verpacken können.
Im städtischen Umfeld hatten sich zwar schon Transportfirmen auf Umzüge spezialisiert, aber sie bedienten nur das Inland. Für mein Anliegen kamen sie also nicht in Frage. Mich plagte außerdem noch die Sorge um Zollformalitäten. Bei offiziellen Stellen nachzufragen, wäre wenig zielführend gewesen, da die Aufmerksamkeit geweckt und sehr viel Verwaltungsapparat in Gang gesetzt worden wäre.
Für die Verpackung meiner Habe hatte ich schließlich und endlich doch noch eine gute Lösung gefunden. Ein befreundeter junger türkischer Künstler, Selim, der wusste, wie man Kunstwerke verpackt, half mir in der Not. Er besorgte aus den umliegenden Geschäften Kartons und Klebeband, ich die Schnüre, und der Keller wurde zu einer Verpackungshalle! Selim hatte mir auch schon die Bücherkisten machen lassen – eine kleine Geldeinnahme für einen armen Künstler.
Zu erwähnen ist noch meine Anstrengung beim Sortieren: welche Dinge sollten mit nach Deutschland gehen, welche keinesfalls? Bei Letzteren war das Thema Entsorgung kein Problem. Denn, was man vor dem Haus an der Straße abstellte, war immer nach kurzer Zeit weg, gefunden von Leuten, die ihren Bedarf nicht normal decken konnten. Schließlich gab es in unserer Touristengegend viele Wanderarbeiter aus dem verarmten Osten. Viele nützliche Dinge konnte ich auch an Freunde und Nachbarn verschenken, und letztendlich wollte der neue Besitzer das Haus möbliert übernehmen. Mein größtes Problem waren die Bücher. Ich hatte viele Regale voll davon in verschiedenen Räumen. Die Hälfte wollte ich definitiv nicht mitnehmen. In meinem weiteren Leben hätte ich keinesfalls noch genügend Zeit dafür übriggehabt. Außerdem hatte ich mich mittlerweile an die digitale Welt einigermaßen gewöhnt und wollte auch Neues nicht ganz ignorieren. Ganz rigoros zu reduzieren schaffte ich jedoch nicht. Also musste ich die Bücher erstmal sortieren, um dann für jedes Gebiet Entscheidungen treffen zu können. Um welche Kategorien ging es?
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Fachbücher: Sprachdidaktik, Linguistik, zum Teil in englischer Sprache
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Romane. Die konnte ich leicht an Mitglieder der Parallelgesellschaft verschenken
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Türkisch Geschriebenes. Wer würde das in Deutschland lesen mögen? Die Enkel sicherlich nicht.
Festzulegen war außerdem, was ich als Quellen für meine beiden Schreibprojekte vorerst behalten sollte. Im Kopf hatte ich ein Konzept zur Reform von Sprachunterricht an Schulen mit dem Arbeitstitel Linguisticum statt Latinum und meine Autobiografie.
So konnte ich meine Buchbestände erst einmal ordnen, und dann kam die Frage, für wen bzw. welche Institution die ausgemusterten Werke noch nützlich sein könnten. Am schwierigsten war es, die wissenschaftlichen Bücher sinnvoll abzugeben. Bezüglich der germanistischen und deutschkundlichen Schriften hatte ich frühzeitig, schon ein Jahr zuvor, Kontakt mit einem jungen Professor der Universität Tekirdağ aufgenommen. Er wollte für seine damals erst sieben Jahre zuvor gegründete Hochschule alles übernehmen. Mein neuerliches Anschreiben zeigte jedoch keinerlei Resonanz. War er entlassen worden? degradiert? oder sonst wie verschollen?
Schließlich gab es eine sehr ungewöhnliche Lösung für diese Partie. An unserem Badestrand arbeitete in den Sommermonaten ein Deutschlehrer im Teehaus. Er hatte noch Kontakt zu seiner Abteilung an der Ege-Universität in Izmir, wo er studiert hatte. Auf Anfrage kam die Nachricht, dass man Interesse habe, aber die zuständige Dozentin könne nicht zu unserem Ort kommen. Warum wohl? Hatte sie kein Auto, kein Geld oder keine Zeit? Oder wollte sie - nicht wissend um welche Bücher es sich handelte – unerkannt bleiben? Schließlich hat sich der engagierte Lehrer das Auto des Teehausbesitzers ausgeliehen und die Büchersendung zur Universität in Izmir gefahren, wo man, wie er mir versicherte, eine Zweigbibliothek gründen wollte zur Erinnerung an die ehemalige Professorin Gertrude Durusoy, die ich übrigens als eine sehr gelehrte und geschätzte Persönlichkeit selbst noch gekannt hatte.
Ich hoffe, dass eines Tages die Verhältnisse an den Hochschulen der Türkei sich wieder zum Guten wenden werden, so dass die Freiheit von Forschung und Lehre sich wieder offen durchsetzen kann. Momentan scheint in der akademischen Welt ein bedauerlicher Tiefpunkt erreicht. Ich selbst fühlte mich insofern auch betroffen, im wissenschaftlichen Arbeiten eingeschränkt, da die Internetzugänge zu You Tube (zeitweise) und auch zu Wikipedia (dauerhaft) seit Jahren gesperrt worden sind. Das betrifft in noch stärkerem Maße die einheimischen Wissenschaftler mit geringem Einkommen und schadet dem Bildungswesen in der Türkei ganz beträchtlich.
Ein weiterer Teil meiner Fachbibliothek ging nach einer neuerlichen Sichtung meiner Bestände dann im Winter an die Universität Muğla. Dort hatte eine Germanistin, die ich bei einem früheren Symposion in Çannakkale kennengelernt hatte, wider Erwarten meinerseits Karriere gemacht. Sie war nun Chefin und wollte die Buchbestände ihres Instituts gerne aufstocken. Eigentlich hatte ich einen Kollegen von ihr, einen früheren Freund, der in Deutschland groß geworden war, angeschrieben. Er hatte nicht reagiert. Wie ich von der Professorin nun erfuhr, sei er abgestuft worden.
Die neue Kollegin aus Muğla kam sodann mit ihrem Mann im Privatwagen und holte die von mir aussortierten Bücher ab. Bei der Gelegenheit bat sie mich, auf einer von ihr organisierten Konferenz als Rednerin aufzutreten. Der Termin sei in drei Wochen, leider sehr kurzfristig. Der Grund: ein Kollege aus Deutschland habe abgesagt, wegen politischer Bedenken. Ich bin nicht in die Lücke eingesprungen, aus Altersgründen. Der Titel der Veranstaltung war „demokratische Erziehung“. Was hätte man da zu der Zeit ausrichten können? Sie bat mich dann noch, bei der Herausgeberschaft einer wissenschaftlichen Publikation mitzuwirken, auch das sehr kurzfristig. Ich lehnte das Angebot ebenfalls ab, andelte es sich doch um einen Verlag, der seinen Sitz in Osteuropa hat und laut Recherchen alles druckt, angefangen von Magisterarbeiten. – Zum Verständnis: für die Karriereleiter in der Türkei und anderswo braucht man dringend Veröffentlichungen im Ausland, wobei die Qualität dann schwer kontrollierbar ist.
Die dritte Partie von Büchern, die ich nicht mitnehmen wollte, waren die Werke in türkischer Sprache. Ich wandte mich an die kleine Bibliothek des Ortes, die hauptsächlich von Schülern genutzt wurde. Dort hatte man keinen Platz dafür übrig. Die Angestellte befürchtete auch eine Auflösung, da die Bestände hauptsächlich auf Spenden beruhten und vom Inhalt her nicht eindeutig mit der Linie der Regierung übereinstimmten. Sie empfahl mir, mich an den „Verein für das Denken Atatürks“ zu wenden. Mir gefiel der Gedanke im Grunde nicht, weil dessen Aktivitäten so eindeutig dem Personenkult des Staatsgründers gewidmet waren. Nachdem ich jedoch den neuen Leiter, einen pensionierten sehr freundlichen Lehrer kennen gelernt hatte, gab ich alle diese pädagogischen und sonstigen Publikationen dorthin. Kurzfristig lud man mich dann noch zu einer Gesprächsrunde ein, an der auch ein 90-jähriger ehemaliger Volksschullehrer des Ortes teilnahm. Er hatte kurz zuvor seine Memoiren aus der Frühzeit der Bildungsoffensive veröffentlicht. Ich berichtete über mein berufliches Leben. Und so kann es, dass ich noch einen letzten Vortrag in der dortigen Landessprache eine Woche vor meiner Abreise gehalten habe!
Die Abholung der Bücher aus meinem Hause war auch wieder recht ungewöhnlich. Kein Problem, hieß es.
Schließlich kam ein offenes Gefährt mit elektrischem Antrieb. Es war für die Beförderung von Touristen
geeignet und überaus geschmückt. Wir verpackten die Bücher notdürftig in Plastiktüten, und eine Schnur
sollte sie vor dem Herausfallen schützen. Der Leiter folgte dem Wagen mit seinem Roller, ebenfalls
mit elektrischem Antrieb, was dort schon völlig normal war.
Nebenbei sei bemerkt, dass es in Deutschland aus anderen Gründen ebenfalls schwierig ist, eigene
Bücherbestände sinnvoll weiter zu geben. Hier ist es der reichliche Zugang zu allen Wissensgebieten
im Zusammenhang mit der Digitalisierung und dem freien Internet.
Die Verabschiedung von Freunden in dem alten Wohnsitz ging wenig aufregend von statten. Die noch verbliebenen Mitglieder der internationalen Community lud ich einzeln bzw. paarweise in ein Restaurant ein, da fast alle noch einen Wohnsitz in ihrer alten Heimat haben und zu verschiedenen Zeiten in unserem Ort weilten. Wegen der politischen Entwicklung in der Türkei gab es eher betrübliche Gespräche, auch meine wenigen einheimischen Bekannten waren besorgt. Kurzfristig bekam ich noch Besuch aus Istanbul von einem jungen freund aus meiner früheren Ankaraner Zeit, der damals als Philosophie-Student und nun als ein ausgewachsener Mann auch mit dem Regime hadert.
Am meisten bedaure ich die Trennung von meinem langjährigen Physiotherapeuten Vince. Er ist Engländer teils deutscher Herkunft, denn seine Mutter war als Teenagerin mit der Familie aus Nazi-Deutschland Anfang der vierziger Jahre nach England geflohen. Der Grund, sie hatten Juden geholfen. In England sind sie dann sesshaft geworden. Nach der Eheschließung mit einem Mann aus Wales wurde die „Muttersprache“ verständlicherweise nicht an die Kinder weiter gereicht.
Vince und sein Bruder sind nach dem mittleren Schulabschluss zum britischen Militär gegangen. Auch ein Onkel von ihm hatte in der britischen Armee gekämpft, während ein anderer Teil der Familie in der deutschen Wehrmacht diente. In der Zeit standen die beiden Onkel sogar als potenzielle Feinde im selben Gebiet einander gegenüber, wie man später erfuhr. Ein interessanter Zufall ist es zudem, dass Vince Bad Lauterberg kennt, weil er als Besatzungssoldat in den siebziger Jahren in Nienburg/Niedersachsen stationiert war und im Harz mehrfach ein Wintertraining absolvierte!
Vince heiratete später eine Engländerin, die in dem türkischen Teil Zyperns geboren war, und neben Englisch die türkische Sprache beherrscht, was er damals jedoch erst sehr spät realisiert hatte. Mit ihr war er ein Jahr zuvor in die Türkei gezogen, wo er als Physiotherapeut eben wegen seiner zypriotischen Ehefrau eine Arbeitsgenehmigung erhielt. Beide hatten Großbritannien verlassen, nachdem er überraschend einen Job im Fitnesscenter verloren hatte. Für mich war das ein Glücksfall, denn ich suchte eine Nachbehandlung für meine Knieoperation im Jahre 2013, was in der Türkei noch nicht überall zugänglich war. Da Vince seine Ausbildung im Militär erworben hatte, konnte ich jahrelang Nutznießerin seines professionellen Wissens und seines Talents sein.
Eigentlich war das Behandlungsziel gewesen, wieder Fahrrad fahren zu können. Das gelang nach ein paar Wochen. Sodann überzeugte Vince mich davon, dass das zu Fuß gehen bzw. Laufen die eigentliche, bessere Lösung sei, und wir setzten die Übungen fünf Jahre lang fort. Kurz, meine gegenwärtige Beweglichkeit habe ich ihm zu verdanken, und das umso mehr, als ich nun wegen des starken Verkehrs in Deutschland kein Fahrrad mehr benutze. Natürlich haben sich bei den Behandlungen im Gebäude und Laufen draußen viele Gespräche ergeben, wobei mein Versuch, ihm die türkische Sprache beizubringen eine besondere Rolle spielte. Diesem Bemühen meinerseits war nicht annähernd soviel Erfolg beschieden wie seiner Behandlung. Weshalb das so war, lässt sich aus sprachdidaktischer Sicht erahnen. Schließlich ist er ein monolingualer Sprecher des Englischen, einer uneingeschränkten Weltsprache – und in einem fortgeschrittenen Alter. Hier nur das Bekenntnis: ich vermisse ihn sehr. Was bleibt, ist der E-Mailkontakt.
Selbstverständlich fällt einem der Weggang von einem Ort mit einem bunten urlaubsartigen Leben nicht leicht. Die Parallelgesellschaft blühte jeweils im Frühling auf, wenn viele Freunde kamen, manche für ein paar Monate, etwa im Frühling und Herbst. Sie vermieden die heiße Jahreszeit im Sommer. Manche kamen für ein halbes Jahr. Ich jedoch blieb dort auch im Sommer und Winter, zu jeder Jahreszeit. So wurde mein Abgang durch das Alter doppelt begründet, denn in der Schwimmsaison konnte ich nicht mehr alleine ins Meer hinein und herauskommen, wenn es Wellen gab – und das war meistens so. Im Winter war es mit der Zeit auch nicht mehr angenehm für mich wegen der Bausubstanz, die eigentlich nur als Sommersitz gut geeignet war. Die Küche und zugleich der Wohnraum in einem Nebengebäude, einem ehemaligen Eselsstall, ließ sich durch einen Küchenherd heizen. Es befand sich dort aber keine Toilette, sodass ich zu dem Zweck immer über den Hof gehen musste, oft eben auch bei starkem Wind und Kälte. Somit ist die Wehmut des Abschieds durch die realen Lebensbedingungen beim Älterwerden eingerahmt. Ein Bleiben wäre zunehmend unerfreulicher geworden. Ein Neustart war notwendig und schließlich auch verheißungsvoll.
Zurück bleiben schöne Erinnerungen und Bilder.
Hier eine Auswahl
Meine Visitenkarte mit der gespaltenen Adresse, meiner akademischen Heimat in Hessen
und dem Lebensmittelpunkt in der Türkei gilt somit nicht mehr.
Auch die offizielle Daueraufenthaltsgenehmigung für die Republik Türkei ist jetzt gegenstandslos geworden.
Tschüss! Lebet wohl! Adieu!
Kommt doch einfach mal zu Besuch zu mir
nach Bad Lauterberg in den Harz!
Zum Wandern …
HOŞ GELDİNİZ !
Zunächst ging es darum, die Wohnung im Parterre unseres Hauses, die seit Jahren nur noch von meiner Schwester und Freunden als Feriensitz genutzt worden war, für mich her zu richten. Meine Kontaktpersonen vor Ort waren daher vor allem Handwerker. Die Räumlichkeiten waren schließlich vor ca. 60 Jahren letztmalig renoviert worden. Ich selbst hatte das Haus 1999 erworben und sogleich die Tochter als Miteigentümerin eintragen lassen, um den Familienbesitz möglichst zu erhalten. Seit Jahren habe ich mich dann mit der Verwaltung und Renovierung des denkmalgeschützten Gebäudes beschäftigt. So habe ich schon 2005 die Fassade streichen lassen und bei meinen jährlichen Besuchen danach viele Fenster erneuert, eine Zentralheizung im Parterre installiert, eine Zwischenwand zur Abtrennung einer kleinen Küche betrieben und auch zwei Zimmer renovieren lassen. Bei meinem Einzug standen noch zwei Räume, der Flur und vor allem das Bad an.
Gute Handwerkerarbeit hat ihren Preis. Ca. 50 € zahlt der Auftraggeber für jede Arbeitsstunde – eine Unsumme verglichen mit den Preisen in der Türkei! In meinem Kopf war also ein Schalter umzulegen für das Finanzielle. Das funktionierte, denn dies war ja keine Überraschung für mich. Dennoch war es eine große Herausforderung. Große Mühe bereiteten mir vor allem die Koordinierung der Abläufe und die Verpflichtung, jederzeit präsent sein zu müssen. Dazu muss man wissen, dass die deutschen Handwerker spätestens gegen acht Uhr morgens anrücken, und der Fliesenleger klingelte schon fünf Minuten vor sieben Uhr früh an der Haustür! Ich hatte mit dem Bad erst im Oktober begonnen, und so war dann der Tagesbeginn im Stockdunklen. Sehr schwierig war es zudem, sich zu behelfen, da vier Wochen lang keine Dusche zur Verfügung stand und sechs Wochen keine Waschmaschine funktionierte. Doch bis Weihnachten war dann alles geschafft, die Wohnung frisch und sauber wie neu.
Und wie stand es mit der Möblierung? Das „Erbhaus“ ist seit 100 Jahren in Besitz der weiteren Familie und war natürlich vollgestopft mit Sachen, die nur zum Teil als erhaltenswert und für mein weiteres Leben als tauglich erschienen. Meine Hauptbeschäftigung der ersten Zeit war also das Aussortieren, Umstellen und „Entsorgen“, wie man heutzutage sagt. Eine ähnliche Beschäftigung wie die vor meiner Abreise aus der Türkei, jedoch anders gelagert. Während dort alle überflüssigen Möbel zur Weiterverwendung weggegeben werden konnten, hat man hier das große Problem des Abfalls, der differenziert strukturiert und benannt ist als Sperrmüll, Sondermüll etc. Dazu kommen die von der Gemeinde gemieteten Tonnen für Restmüll und Papier sowie die gelben Säcke für den Plastikmüll. Alles ist hübsch zu trennen und zu bestimmten Zeiten an die Straße zu stellen. Schließlich werden dem Volumen entsprechend gestaffelte Gebühren dafür erhoben. Alles dies ist sehr sinnvoll und wichtig, denn in der hiesigen Wohlstandsgesellschaft fällt sehr viel Müll an!
Unser Haus enthält drei Etagen, somit gibt es neben der Parterrewohnung noch mindestens zwei Mietparteien. Irgendwann sind Wohnungstüren eingebaut worden. In den vierziger Jahren war fast jeder Raum mit verschiedenen Personen belegt. In der Zeit vor dem Krieg konnten viele Zimmer an Kurgäste vermietet werden. Die Zeichnung zeigt den Plan bei der Erstellung des Gebäudes 1899.
Das Grundstück ist eng. Zum Parken von Autos gibt es kaum Platz. Das und auch der Abfall waren in früheren Zeiten kein großes Problem gewesen. Heutzutage ist das anders. Inzwischen ist die Abfallwirtschaft stark ausgebaut. Am Haus stand ein 120 Liter Behälter für den Restmüll bereit. Nun, mit meinem Einzug, zeigte sich, dass dies nicht mehr ausreichte. Also wurde eine Neueinrichtung notwendig. Sehr geordnet läuft das in Deutschland in der Verantwortung der Eigentümer ab. Ich ging also zum städtischen Bürgerbüro und wollte mich erkundigen, welche Behälter mit welchen Volumen bestellt werden können. Diese meine Frage war offenbar lästig für die diensthabende Servicefrau. Sie drückte mir eine vielseitige Broschüre in die Hand mit der Bemerkung „Sie können doch lesen!“ Eigentlich kann ich das natürlich, aber der notwendige Hintergrund fehlte, und das machte es schwierig. Mein Deutschsein half mir wenig. Ein intensives Studium verbunden mit Fragen über Fragen war notwendig. Allmählich war ich dann informiert und danach gelang es mir sogar auch noch, die anstehende Neueinführung der Biotonne im April 2019 für unser Haus abzuwenden (alles schriftlich mit Begründungen), denn als Gartenfreundin habe ich einen Komposthaufen. Das musste der Verwaltung in der Kreisstadt glaubhaft vermittelt werden. Ich frage mich dabei, wie die echten Neuankömmlinge, die Geflüchteten, mit den bürokratisch gewachsenen Strukturen in Deutschland zurechtkommen können.
Überflüssige Möbelstücke gingen in den schriftlich zu bestellenden Sperrmüll. Wohin aber mit den Inhalten der Schränke und abgestellte Gegenstände im Keller, Sachen, die von meiner Mutter, Tanten und anderen Bewohnern des Hauses zurückgelassen worden waren? Schließlich wartete ich ja noch auf mein Umzugsgut, die Pakete und eingepackten Kleinmöbel, die dann nach Pfingsten eintrafen. Ich machte mich also auf die Suche nach weiteren Entsorgungsmöglichkeiten, fand Kleidercontainer der Wohlfahrtsverbände und eine Kleiderkammer, wo Bedürftige für wenig Geld noch gut erhaltene Sachen erwerben können, ehrenamtlich geleitet. Zudem gibt es im Ort einen einsamen Flohmarkt am Wochenende neben der Kirche, den Bärbel betreibt, um ihre Rente aufzubessern. Mit dieser Frau habe ich zu Anfang die meisten Worte gewechselt. Sie freute sich über alles, was ich anschleppte und verkäuflich war. Dafür bekam ich ab und an ein Glas selbst gemachte Marmelade. Wir haben auch jetzt, fast zwei Jahre nach meiner Ankunft noch guten Kontakt aufgrund der vielen „Schätze“. Denn meine Mutter hatte eine Sammelleidenschaft, die verschiedene nützliche und nicht nützliche Dinge betraf, so etwa Küchenhandtücher und Spielzeug, vor allem Puppen und deren Bekleidung, die sie selbst herstellte. Hierzu noch ein interessantes Beispiel: unsere Mutter liebte auch Postkarten von Bad Lauterberg und schaffte unzählige ältere Aufnahmen des lokalen Fotogeschäfts davon an. Es waren zum Teil Übergrößen in schwarz-weiß. Ich brachte etwa 50 Stück davon zu Bärbel – und sie erzählte mir später, dass der Junior der Firma etliche davon wiedererkannt hatte. Es waren offenbar wertvolle Raritäten, die fotografischen Leistungen seines Großvaters.
Wenn man als alter Mensch in den Ort seiner Jugendzeit zurückkehrt und zwischendurch fast 70 Jahre lang wechselhafte Wohnsitze hatte, ist es nicht leicht, soziale Kontakte herzustellen. Das Anknüpfen an frühere Zeiten gelingt nur ausnahmsweise. Jedoch konnte ich noch Thea ausfindig machen, die mit meinem Bruder zusammen in eine Klasse gegangen war und in meinem Ankunftsjahr ihren 90. Geburtstag feierte. Sie lebte wie ich die meiste Zeit ihres Lebens nicht in Bad Lauterberg, da sie mit einem Kapitän verheiratet gewesen war. Zudem kenne ich noch die Kantorin der evangelischen Kirche, die sich mit einer Freundin zusammen um meine Mutter in ihren letzten Lebensjahren gekümmert hatte. Diese beiden Frauen fragte ich nach Kontaktmöglichkeiten für meine soziale „Integration“. Ihre Hinweise klangen so: Wenn Du singen magst, ist der Kirchenchor offen für Dich. Wenn Du Tiere liebst, ist der Tierschutzverein ein guter Ansprechpartner. Außerdem gibt es einen Schwimmklub am Wiesenbeker Teich. Leider treffen die Voraussetzungen für die ersten beiden Angebote nicht zu. Und für die Anfahrt zum Schwimmen im nahen See braucht man ein Auto. Schade! So bleibt mir noch der Harzklub zum Wandern.
Zu meiner Überraschung erfuhr ich, dass meine ehemalige Klassenkameradin aus dem fünften und sechsten Schuljahr, die den gleichen Vornamen wie ich trägt – Helga – noch in Lauterberg lebt und sich auf einen Besuch von mir freuen würde. Wir hatten zusammen unsere große Abenteuerzeit, als wir 1946 nach dem Krieg gemeinsam mit der Eisenbahn in die umliegenden Dörfer fuhren, um zu hamstern. Konkret: als 12jährige Mädchen klopften wir bei den Bauern an und baten flehentlich um eine Scheibe Brot, bzw. etwas Mehl bei einer Mühle. Die Ergebnisse brachten wir dann in Leinensäckchen gestapelt stolz heim zu unseren Familien. Helga sagte mir nun am Telefon, dass sie außer einer hochgradigen Sehbehinderung noch fit sei, und ich besuchte sie an einem Sonntagvormittag. Das Wiedersehen war erfreulich, aber vor allem auch bedrückend. Ich kam in eine sehr kleine Wohnung an der Durchgangsstraße im Zentrum der Stadt. Das Haus war noch im Stadium eines Umbaus, kaum fertig hergerichtet. Die Wohnung hatte Fenster nur im Wohnzimmer, das mit einer Küchenzeile ausgestattet ist. Vermutlich war sie als Ferienwohnung geplant. Auf der Couch lag ihr Mann, 96 Jahre alt und sehr schwach, sodass er von meinem Besuch nicht einmal Kenntnis genommen hat.
Helga sagte, sie sei total unzufrieden. Vor Jahren hätten sie ein eigenes gutes Haus gehabt, dann seien sie beide krank geworden, hätten das Haus und einen fast neuen BMW-Wagen zu billig verkauft und seien in ein Altenheim mit betreutem Wohnen gezogen. Dort hätten sie fünf Jahre lang gelebt. Das Geld sei aufgebraucht und überhaupt sei es grauenhaft, dass man in solchen Heimen nicht selbstbestimmt dies und das machen könnte, nicht einmal könnte man sich etwas kaufen, weil die Wege zu lang sind. Dann seien sie wieder dort ausgezogen und in dieser zentral gelegenen kleinen Wohnung untergekommen, insgesamt ziemlich verarmt mit geringer Rente. Ihr Mann sei acht Jahre lang (!) in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen und das wurde bei der Ruhestandsberechnung nicht angerechnet! Sie selbst habe bei der Personalabteilung der Stadt 35 Jahre lang gearbeitet und bekomme nicht viel – hingegen würden die Neuankömmlinge, die Flüchtlinge, gut versorgt vom Amt. Das mache sie so unzufrieden. Außerdem sei es sozial sehr einsam geworden, viele ehemalige Bekannte und Kollegen sind gestorben oder haben sich umorientiert. Schließlich komme sie auch kaum raus, wegen ihrer Sehbehinderung und der Pflegebedürftigkeit ihres Mannes. Mein Besuch war fast zur Mittagszeit, und sie wartete immer noch auf den ambulanten Pflegedienst, der ihren Mann am Morgen waschen sollte. Das Essen käme dann auf Rädern, das sei o.k., sagte sie. Die Wohnlage sei günstig, weil sie sich in der nahe gelegenen Tankstelle 24 Stunden mit dem Nötigsten versorgen könne.
Auf meine Frage, warum ihr Mann so lange in der Sowjetunion festgehalten worden sei, sagte Helga nur: man brauchte dort doch Facharbeiter. Er sei immer ein guter Sportler gewesen, sonst hätte er das nicht überlebt. Nur dank der Initiative von Adenauer sei er dann entlassen worden. Das Schicksal von Helga hat mich sehr betroffen gemacht. Es kann sicher als eine große Ausnahme in der Bundesrepublik angesehen werden. „Hüte dich vor den Pflegeheimen“, riet sie mir zum Abschied. Ich denke, eine solche Stimmung verbreitet sich in diesem Land mehr und mehr; und dabei wird mir meine privilegierte Situation deutlich bewusst. Früher, im Krieg, hatten wir in der gleichen Straße gewohnt. Ihre Familie besaß eines der kleines Häuschen mit Garten. Der Vater war Schuster, ein nützlicher und einträglicher Beruf, denn Schuhe brauchte jeder, was sich gelegentlich in materiellen Vorzügen auswirkte im Krieg und danach. Unsere Familie hingegen hatte eine sehr kleine Wohnung und einen Vater, der nach der Kapitulation des Hitler-Reiches demoralisiert und ohne Arbeit war.
Ich habe Helga Monate später wieder besucht. Ihr Mann war verstorben und sie hat nun die Aufgabe, sich neu zu orientieren – nach 70 Jahren Ehe in Bad Lauterberg. Wie verschieden sind doch unsere Lebenswege verlaufen! Sie war und ist sesshaft, während ich vorwiegend an anderen Orten lebte, und dazu viel im Ausland. Doch gibt es die gemeinsamen Erinnerungen. Aus den zwölfjährigen tüchtigen Mädchen, von denen es keine Fotos gibt, sind zwei alte Frauen geworden.
Im Vergleich mit Helga und den meisten Mitmenschen wohne ich komfortabel, jedoch auch
nicht ohne Probleme. Denn mein Verhältnis zu den unmittelbaren Nachbarn in der Villa rechter
Hand war von Anfang an gespannt, und zwar aus folgendem Grund: Das Grundstück grenzt
unmittelbar an das unsrige und wurde als Auslauf für einen Hund genutzt, der so abgerichtet
war, dass er bei jedem anderen Hund, der auf der Promenade ausgeführt wurde, mit lautem
Gebell reagierte. Das schreckte mich immer auf, am Tag etwa 20 bis 40 Mal. Schließlich ist
unsere Promenade mit den Linden und Grünstreifen neben dem Fluss ein sehr beliebter
Spazierweg für Mensch und Hund. Er wird auch in großer Zahl von den Kurgästen mit ihren
vierbeinigen Lieblingen genutzt. Es gibt hier sogar „Hundekot-Entsorgungsstationen“.
Das Hundegebell, beginnend meist schon am frühen Morgen, hat auch die weiter entfernt wohnenden Nachbarn gestört. Nun ist der Hund im Sommer aus nicht ganz geklärter Ursache gestorben. Der Besitzer hat jedoch mittlerweile einen sehr stabilen, ca zwei Meter hohen Zaun errichtet und seine Absicht bekundet, einen noch größeren Hund anzuschaffen – zur Sicherung des eigenen Grundstücks. Der Grund ist eine tiefsitzende Angst, die m.E. durch die reale Situation nicht gerechtfertigt ist.
Somit hat auch eine so angenehme und von der Natur begünstigte Wohnlage ihre Schattenseiten. Wenn ich das mit der Lärmsituation in meiner ehemaligen türkischen Umgebung vergleiche, so fallen spezifische Eigentümlichkeiten ins Auge. Auch da war es laut, z.B. durch die Geräusche der Kettensägen, die im Winter das Brennholz zurichteten oder durch die ausgelassene Stimmung der Leute, die sich zum Teetrinken in der Nachbarschaft bei dem meist sonnigen Wetter im Freien trafen. Die Unterschiede sind vor allem durch das Wohlstandsgefälle verursacht. Es gibt hier nicht nur die Abermillionen Hundebesitzer, dazu scheint jetzt noch ein Trend der Hausbesitzer zur Abgrenzung des Eigentums durch Zäune zu kommen. In unserer Promenade, die ausdrücklich als Grünzone in Ergänzung des Kurparks ausgewiesen ist, entstand ein kleiner Neubau mit einer großen Außenfläche, die zum Teil der ehemaligen Bahntrasse zugehörte. Dieses neu ausgewiesene Grundstück wurde vor ein paar Jahren mit einem undurchdringlichen sehr hohen, mauerartigen Zaun umgeben. Hier drängt sich mir der von Ausländern häufig benutzte Begriff der „German Angst“ auf.
Die Verlegung meines Wohnsitzes war für mich mit mehreren Aufgaben verbunden. Es ging es um die Renovierung und Einrichtung der Wohnung und die Bearbeitung der Gartenflächen, was bisher nur notdürftig von den Mietern geleistet werden konnte. Für diese Arbeiten war ich auf gute Helfer angewiesen. Zunächst ist hier mein Enkel Jesse zu nennen, der bei der Aussortierung und dem Ausräumen der Möbel, die ich nicht mehr brauchte, tüchtig zupackte. Zum anderen half mir Ahmedin, ein Nachfahre von Neubürgern aus dem ehemaligen Jugoslawien, und zum Dritten war es mein Freund und Nachbar aus meinem türkischen Domizil, Pirmin, der noch seinen Wohnsitz in Berlin hatte. Er reiste des Öfteren an und leistete unbezahlbar nützliche Arbeit für die Inneneinrichtung der Zimmer, Zurichtung der alten und Aufstellung einiger neu angeschaffter Möbel sowie beim Aufhängen der Bilder etc. Zu vergessen ist auch nicht die beratende und tatkräftige Hilfe meiner über neunzig Jahre alten Schwester Gisela sowie meiner Tochter Barbara, die sich all der Probleme annahm, die vorwiegend mit telefonischem Management zu regeln waren und sind – denn davon gibt es immer noch viele.
All denen sei an dieser Stelle nochmals ausdrücklich gedankt!



Zechenstraße Nr. 48 vorne
hinten

Der Käufer reagierte souverän und hatte nach ein paar Monaten die Gewissheit, dass die entsprechende Summe zurückgezahlt worden war. Mit nicht geringer Mühe hatte die betroffene Bank ihres Vorgängers den Status klären können.
Und dies ist das Haus in Güzelçamli, nahe Kuşadası an der Ägäischen Küste, in Sichtweite der griechischen Insel Samos, das ich nun auf Dauer verlassen habe.




Mit der genannten Firma nahm ich also Kontakt auf und begann mit dem Sortieren. Das Problem spitzte sich zu, als Monate später der Besitzer nicht mehr erreichbar war. Meine Schwiegertochter – an internationale Umzüge gewohnt – half, indem sie sich beim deutschen Konsulat in Izmir informierte. So erfuhr ich, dass bei einer in Diplomatenkreisen erprobten Firma eine Beiladung von 10 Raummetern zu einem Pauschalpreis möglich war. Ein Termin von Land zu Land konnte nicht genannt werden. Man habe ja ein Lager in Ankara und könne die Abholung wunschgemäß erfolgen lassen, hieß es. Ein Nato-Offizier sei mit einem Umzug nach Ankara befasst und später gäbe es vermutlich auch einen internationalen Auftrag. So kam es denn auch, eine Woche vor meiner eigenen Ausreise am 25. März wurden die Sachen mit einem Kleintransporter abgeholt. Die engen Gassen hätten sowieso kein TIR-Auto passieren lassen! Drei Monate später, also nach Pfingsten, traf das Umzugsgut in Bad Lauterberg ein. Ich erfuhr dann auch, welche Stationen die Pakete zu durchlaufen hatten. Ein Anruf war aus Berlin gekommen „Ihre Sachen sind hier angekommen, Weitertransport bald“. Dann eine Meldung aus Frankfurt von einer türkischstämmigen Firma „Freitag kommen die Sachen zu Ihnen, aber Sie müssen das Ausladen selbst organisieren. Wir haben nur einen Fahrer“. Nächster Anruf „Das Auto war schon unterwegs, ist defekt, wir fahren zurück nach Berlin“. In der folgenden Woche kamen dann endlich die Sachen nach langem, bangem Warten an – bis auf einen Gegenstand, ein Ölgemälde. War es extra zurückgehalten worden, um es zu verkaufen oder wegen besonders sorgfältiger Behandlung? Ich weiß es bis heute nicht, war aber froh, als ich es per DHL-Post Tage später wohlbehalten in Empfang nehmen konnte.



Teehaus
Umur Türker


Vince und Helga 2013













Von den Aufgaben, vor die ich durch die Umsetzung meines Lebensmittelpunkts gestellt war, hatte ich nach etwa einem Jahr die vordringlichsten bewältigt. Es war die Herrichtung der Wohnung und des Gartens sowie die lokale Orientierung in der Verwaltung, das Arrangement mit den Mietern des Hauses und – nicht zuletzt – meine Anpassung an das deutsche Wetter! Vor mir standen nun noch zwei sehr aufwendige und langfristige Herausforderungen. Das ist zum einen der Aufbau eines sozialen Umfelds vor Ort und zum anderen die Erstellung eines Familienarchivs, die Sondierung all der im Haus aufbewahrten Schriftstücke, Fotos etc., Erinnerungen an die Vorfahren.
Eine günstige Gelegenheit, diese beiden Projekte zu kombinieren, ergab sich durch die Existenz einer sehr aktiven Archivgemeinschaft in Bad Lauterberg. Diese hatte sich schon bald nach dem Krieg, 1954, gegründet. Man trifft sich im Heimatmuseum alle zwei Wochen regelmäßig. Ich wurde sehr freundlich aufgenommen. Die Gemeinsamkeiten der Interessen liegen auf der Hand: es sind die Schnittlinien meiner Familiengeschichte und der Entwicklung der Stadt als Kurort mit seiner Blütezeit zum Ende des neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts.
Weiterhin knüpfte ich Kontakt zu dem Lauterberger Kneipp-Verein, der in einem monatlichen Rhythmus zu einem „Klöntreff“ zusammenkommt. Dabei werden die anstehenden Arbeiten in der Natur besprochen. Es geht um die Pflege der Kurwanderwege, des Kräutergartens und Ähnliches. Der Verein wird getragen von Vertretern der Einrichtungen, die der Lehre des Pfarrers SEBASTIAN KNEIPP folgen. Dabei geht es vor allem um Anwendungen wie Wassertreten und Güsse. Besonders gefällt mir die Tatsache, dass direkt im Ort Wassertretstellen am Fluss angelegt sind, sodass man fließendes Wasser nutzen kann – und sie sind für alle zugänglich! Ein persönlicher enger Bezugspunkt ergab sich für mich, da meine Mutter in ihren letzten Jahren in Bad Lauterberg bei diesen Ärzten Rat gesucht hatte. Diese sind nun ins Seniorenalter gekommen und im Verein aktiv. Der Altersdurchschnitt der Mitglieder ist vermutlich 65 plus. Für mich mit Alterserscheinungen wie Hörproblemen etc. ist das nicht ungünstig.
Eine weitere Kontaktaufnahme startete ich mit der lokalen Gewerkschaftsgruppe. Da ich seit den siebziger Jahren Mitglied der GEW (Gewerkschaft für Erziehung und Bildung) im Gießener Raum bin, konnte ich mich hierher sozusagen ummelden. Das Jahrestreffen für Lauterberg und Umgebung fand im Nachbardorf statt. Auch hier die gleiche Erfahrung: die Ortsgruppe besteht hauptsächlich aus Ruheständlern. Sie bangte um ihr Fortbestehen wegen Mangels an Nachwuchs. So wurde ich auch hier sehr freundlich begrüßt, als „jüngstes“ Mitglied mit dem „höchsten“ Alter! Bei der Versammlung mit ca. 13 Personen versicherten die wenigen Aktiven, dass sie auch bald in den Ruhestand treten werden.
Überhaupt ist Bad Lauterberg ein beliebter Aufenthaltsort für Senioren, so dass ich mich hier gut einleben kann. Das gilt auch für die Kurgäste, die an unserem Haus vorbei spazieren und gelegentlich ein Schwätzchen beginnen, wenn ich mich im Vorgarten betätige, z.B. Unkraut beseitige.
Meine enge Beziehung zu dem Ort meiner Kindheit ist vor allem durch unsere Mutter geprägt. In den siebziger und achtziger Jahren hatte sie in hohem Alter ständig hier in der Oderpromenade gelebt. Nach einem relativ kurzen Aufenthalt (14 Monate) in einem Pflegeheim des Ortsteils Osterhaben war sie 1995 kurz vor ihrem 94. Geburtstag verstorben und liegt auf dem Lauterberger Bergfriedhof begraben. Sie trug mir auf, das Haus unbedingt festzuhalten – es könnten ja auch wieder schlechte Zeiten kommen nach der rasanten Entwicklung des Wohlstandes, der die Menschen von der Natur entfremdet. Einige Jahre zuvor hatte sie mir ihren Besitzanteil davon (25%) überschrieben und dringend empfohlen, die restlichen Anteile (75%), die ihre Schwester besaß, unbedingt zu erwerben. Und so kam es dann auch, als mein Cousin 1999 im Namen seiner Mutter das Haus verkaufen wollte.
Hier nun einige Bemerkungen zur Lage und Geschichte des Ortes, die interessant und wechselvoll erscheint, was schon im Merianstich angemerkt worden ist. (gewesene Bergstadt).
Die Chronisten datieren den Anfang auf das Jahr 1183, als der Graf Sigibodo II von Lutterberg in einer Urkunde erwähnt wird. – Die „Lutter“ ist ein Nebenfluss der „Oder“, an dessen Lauf die Ansiedlung erfolgte. Danach wechselte die Landeshoheit mehrfach. Ich habe den Eindruck, dass sich in dem Städtchen mit nunmehr ca. 11000 Einwohnern die Geschichte Deutschlands in der Provinz ziemlich deutlich wiederspiegelt. Das machte für mich dieses Studienobjekt besonders reizvoll, da ich aufgrund meiner Altersgruppe (Jahrgang 1933) mit dem Schulbesuch in der Hitlerzeit und direkt nach dem Krieg verständlicherweise einen eklatanten Mangel an historischer Bildung habe. Diese Lücke konnte ich in der folgenden Zeit des Wiederaufbaus und im Kontext meines beruflichen Werdeganges bisher kaum zu meiner Zufriedenheit schließen.
Zur Geografie: Wo genau liegt Bad Lauterberg und wovon ernährten sich die Einwohner?
Der Blick auf die Landkarte zeigt das Städtchen im äußersten Zipfel von Niedersachsen. Die Lage etwa in der Mitte Deutschlands scheint bestimmend für den vielfachen Wechsel im Herrschaftssystem – bis zum heutigen Tage. Denn vor nicht langer Zeit fusionierte der Landkreis Osterode mit Göttingen und ist jetzt noch als „Altkreis Osterode“ im Bewusstsein der Bevölkerung lebendig. Im föderalen System der Bundesrepublik hat Lauterberg eindeutig eine Grenzlage. Die Nachbarländer sind Thüringen im Süden und Sachsen-Anhalt im Osten. In der Zeit der deutschen Teilung 1949-1989 mit der innerdeutschen Staatsgrenze gehörte Lauterberg zum „Zonenrandgebiet“ mit allen wirtschaftlichen Nachteilen, aber auch dem Vorteil, dass es für Westberliner ein nahegelegenes Urlaubsziel bot. Diese Chance ging mit der Wiedervereinigung 1990 verloren und ließ den etablierten Fremdenverkehr einbrechen. Der Raum Südniedersachsens gilt momentan auch als schwach entwickelt, weshalb die Regierung in Hannover unlängst ein Schwerpunktprogramm zur wirtschaftlichen Förderung aufgelegt hat - und dies sogar schon von der Coronakrise, die wiederum den Urlaubsort massiv getroffen hat.
Festzustellen ist jedenfalls, dass die ehemals zur DDR gehörende thüringische Stadt Nordhausen näher liegt als die Kreisstadt Göttingen (NHS 28 km, Gö 50 km) und Erfurt näher als Hannover!
In der gegenwärtigen Zeit der Coronakrise gibt es zudem manche Merkwürdigkeiten. So liest man in der Lokalpresse, dass die Niedersachsen in den Feiertagen zu Ostern 2020 nicht nach Sachsen -Anhalt, in den Ostteil des Harzes, reisen sollten und auf dem Wochenmarkt am Freitag, dem 3.4., erfuhr ich von einer Verkäuferin aus dem Eichsfeld, dass sie ihre Gemüsepflänzlinge nicht in Niedersachsen anbieten dürfte, wohl aber in Thüringen! Ich lebe also quasi in einer Randzone mitten in Deutschland.
Die innerdeutsche Grenze verlief ja mitten durch den Harz und ist aufgrund der föderalen Struktur der Bundesrepublik weiterhin präsent. Somit bedarf es gegenwärtig noch besonderer Anstrengungen bei der Verwaltung und touristischen Vermarktung des gesamten Gebirges. Zu erwähnen ist hier der „Nationalpark Harz“, in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt 2006 gegründet umfasst er 10 % der Gesamtfläche rund um den Brocken. Der „Naturpark Harz“ geht auf das Jahr 1960 zurück. Seine Ost- und Südostgrenze ist Teil des 1400 km langen Grenzlandstreifens (das „Grüne Band Deutschland“), der als Grüngürtel erhalten werden soll. Östlich davon gibt es den 2003 gegründeten „Naturpark Harz/Sachsen Anhalt“.
Interessant ist weiterhin das Schicksal des am Südrand gelegenen ehemaligen Klosters Walkenried. Im Mittelalter waren von dort starke kulturelle Impulse ausgegangen. In jüngster Zeit wurde es nun als historisches Denkmal besonders gepflegt und ausgebaut. Nach dem Krieg endete hier die Bahnstrecke von Northeim nach Nordhausen und in dem toten Winkel waren die Ruinen von der Natur überwachsen. Mit Vater und Bruder war ich einmal dort und wir staunten über die Wuchtigkeit der Bäume, wie auf den Fotos dokumentiert.
Zurück zur frühen Geschichte des Ortes. Das Geschlecht der Burggrafen von Lutterberg war1398 ausgestorben. Beim Kampf um das Erbe setzten sich die Herzöge von Braunschweig-Grubenhagen durch. Später verpfändeten sie das Gebiet und 1490 belehnten sie damit die Grafen von Honstein aus dem südlichen Raum. Für die Region war der Bergbau von großer Bedeutung. Man fand Silber, Kupfer, Blei, Zink, Eisenerz und Flussspat.
Die Chroniken vermelden, dass die grafen zur Ausbeutung der Bodenschätze 1521 die sog. „Bergfreiheit“ erlassen hatten. Darin sind eine Reihe von Vergünstigungen enthalten für Bergleute, die aus anderen Regionen zuwanderten. Somit wuchs die Zahl der Einwohner um 1600 auf etwa 1000 an. Der Ort entwickelte sich zunehmend, obwohl innerhalb von 25 Jahren (1528-1617) die Landesherrschaft viermal (!) gewechselt hatte. In den Wirren des dreißigjährigen Krieges und danach wurde viel Schaden angerichtet, insbesondere durch größere Brände 1641, 1667 und 1695.
Mit dem Rückgang der Ausbeute wurden die Gruben nach und nach stillgelegt. Die nahe am Ortskern befindlichen sind im Zweiten Weltkrieg als Luftschutzbunker genutzt worden. Bei Wanderungen kann man ihre Eingänge z.T. noch erkennen. Eine davon, die direkt an dem Fluss liegt, die „Scholmzeche“ ist nunmehr als Besucherbergwerk hergerichtet.
Mir fällt auf, dass in den letzten Jahrzehnten der langen Periode der Abwesenheit von Kriegen - zumindest in Europa - und des wachsenden Wohlstands viele Orte und Gegenstände der menschlichen Arbeit musealisiert worden sind. Sicher hat die wachsende Mobilität durch privaten Autobesitz nicht unwesentlich dazu beigetragen. Man wendet den Blick zurück und findet Gefallen daran, sich auf den Erhalt des kulturellen Erbes, sowohl regional als auch global, zu konzentrieren. Das gilt für die Zeit vor der Wiedervereinigung und vielleicht noch stärker für die Zeit danach. Ein gutes Beispiel dafür ist das schon erwähnte Zisterzienserkloster Walkenried. Es ist mittlerweile weitgehend restauriert und wird für kulturelle Zwecke, vor allem musikalische Veranstaltungen genutzt. Seit 2010 ist es einbezogen in das von der UNESCO anerkannte Welterbe „Oberharzer Wasserwirtschaft“, auch „Wasserregal“ genannt.
Dabei handelt es sich um ein vorindustrielles System zur Umleitung und Speicherung von Wasser als Antrieb für Wasserräder. Es gilt als das bedeutendste frühe Wasserwirtschaftssystem des Bergbaus und umfasst unzählige Stauteiche und Talsperren. Die Dämme sind aus Erde und wurden durch Grasnaben verdichtet. Diese Anlagen sind weitgehend erhalten und eine Attraktion für den Fremdenverkehr. Hierzu gehört auch der Wiesenbeker Teich ganz in der Mähe von Bad Lauterberg, idyllisch gelegen umgeben von Wäldern und Bergrücken, durch ca. 30 Minuten Fußweg zu erreichen oder in noch kürzerer Zeit mit dem Fahrrad! Dieser Teich wird seit eh und je von Einheimischen und Gästen als Ausflugsziel und Badesee genutzt. Auch ich habe dort in meiner Kindheit das Schwimmen gelernt.
Am anderen Ende des Sees, gegenüber der Badeanstalt, befindet sich ein ehemals und bis in die 90er Jahre hinein prosperierendes Gasthaus mit Hotelanlage, ausgewiesen als Kneipp-Hotel. Wir schwammen als Jugendliche in 45 Minuten oft dort hinüber. Später gab es dann da auch noch einen Bootsverleih. Diese Perle ist nun bedauerlicherweise in einem beklagenswerten Zustand, eine moderne Ruine gewissermaßen, dem Verfall preisgegeben.
Jedermann, den ich fragte, konnte nur mit einem traurigen Blick und Kopfschütteln reagieren. Auch die Gemeindeverwaltung zeigte sich hilflos diesem Schandfleck gegenüber. Offenbar ist das Anwesen vor mehr als 20 Jahren von einem „Investor“ billig gekauft worden. Seine Pläne konnte er dann nicht realisieren – und so verfällt der gesamte Komplex. Man sei hilflos, heißt es, denn hier haben wir es mit privatem Eigentum zu tun! Ich kann es nicht verstehen und finde es inakzeptabel, dass der Privatbesitz in dem Maße Vorrang vor dem Gemeinwohl hat und man folglich eine Landmarke des Ortes, ein probates Ausflugsziel, einfach verkommen lässt. Sollen wir uns nun mit dem Anblick der Gaststätte auf alten Postkarten begnügen oder digital uns der Vergangenheit erfreuen?
Andererseits wurde mit großem Aufwand im letzten Winter eine Reparatur am sog. Striegel des Dammes vorgenommen. – Es handelt sich um ein am unteren Ende befindliches Ablaufsystem. Dafür musste das Wasser vollkommen abgelassen werden. Mittlerweile ist der Teich wieder vollgelaufen.
Einen größeren Kontrast zwischen Maßnahmen des Weltkulturerbes und den lokalen Möglichkeiten kann man sich kaum vorstellen.
Zurück zur Geschichte von Lauterberg. Die Ausbeute der Bergwerke ging langsam und stetig dem Ende zu, zuletzt wurde nur noch Kupfer und Schwerspat gefördert. 1665 wechselte die Landesherrschaft über zu der Linie der Welfen, die in Hannover residierten und 1692 die Kurfürstenwürde erreichten. 1714-1810 gab es dann eine Personalunion mit Großbritannien, sodass das hiesige Gebiet von London aus regiert wurde. Das auf dem Wiener Kongress geschaffene Königreich Hannover endete mit der Schlacht bei Langensalza 1866 und Lauterberg fand sich dann plötzlich in einer preußischen Provinz wieder, die als solche im deutschen Kaiserreich aufging.
In jener Zeit stagnierte die wirtschaftliche Entwicklung. Aufgrund der Gegebenheiten der Natur – Berge, Wald, Wasser - gab es immer nur sehr beschränkte Möglichkeiten durch Landwirtschaft und Viehzucht den Lebensunterhalt zu bestreiten. Einen positiven Effekt für die notleidende Bevölkerung des Ortes hatte die Errichtung einer industriellen Anlage, eines Eisenhüttenwerks 1733. Die Königshütte war zunächst eine Hochofenanlage, dann eine Drahtzieherei und Eisengießerei. Die Chronisten erwähnen hohe Besucher der Anlage: Goethe, Ernst August von Hannover und König Georg V. Der Betrieb endete endgültig erst 2001. Heutzutage ist das außerhalb des Stadtkerns gelegene gut erhaltene Ensemble ein technisches Industriedenkmal. Es wird von einem Förderkreis gepflegt und ist für Besucher zugänglich.
Zu dem Gesamtkomplex mit Gräben für Wasserkraft gehört auch die zu der Zeit errichtete Wehrbrücke direkt am Kurpark. Sie ist eine Art Wahrzeichen des Städtchens, so wie der Hausberg, der Lutterberg der Erstbesiedelung. Leider ist die Fußgängerbrücke in einem sehr maroden Zustand. Sie soll aber in ihrer historischen Form erhalten und renoviert werden.
Ich laufe täglich über die Brücke bei meinem Bewegungstraining am Ufer der Oder entlang. Von unserem Haus aus kann man das Gefälle sehen und das Rauschen des Wassers hören.
In der Geschichte von Bad Lauterberg lässt sich etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts eine eindeutige Wende ausmachen. Wie auf dem Stich von Merian notiert, gab es eine Periode, in der der Bergbau dominierte. Danach ging die Entwicklung hin zum Kurbetrieb, Lauterberg wurde ein Heilbad. Die Umstellung wird präzise auf das Jahr 1839 datiert, als der Sanitätsrat Benjamin Ritscher eine Kaltwasser- Badeanstalt eröffnete. Ritscher hatte sich über die Priesnitzsche Wasserheilbehandlung informiert und hier eine ähnliche Institution geschaffen, der in Anbetracht der günstigen Naturgegebenheiten sofort großer Erfolg beschieden war. Die Zahl der Gäste des Kurbetriebs stieg von Jahr zu Jahr steil an und so wurde der „Flecken“ zur Stadt und Lauterberg durfte sich schließlich als „Bad“ bezeichnen (1906). Im norddeutschen Raum konnte sich der Ort sehr gut etablieren. Die Errungenschaften des bürgerlichen Zeitalters verbunden mit dem wachsenden Wohlstand waren die Grundlage, wobei sich durch die Zugehörigkeit zu Preußen eine nahtlose Verbindung zum Kaiserreich mit dem Zentrum Berlin als günstig erwies.
In Lauterberg setzte eine starke Bautätigkeit ein, die ersten Kuranlagen wurden errichtet. Grundlegend für die An- und Abreisen war auch die neue Eisenbahnverbindung, die bis 1884 von Scharzfeld bis St. Andreasberg stückweise ausgebaut worden war. Das letzte steile Stück leistete schließlich eine Zahnradbahn. In der Nachkriegszeit sind wir als Familie oft damit gefahren, zum Sammeln von Blaubeeren in den Bergen.
Es gab für Lauterberg sogar mehrere Bahnhöfe: Bad Lauterberg Hauptbahnhof,
Bahnhof Kurpark, Odertal, Silberhütte. Die Zahnradbahn wurde schon 1959
stillgelegt – heute wäre sie sicher eine Attraktion für den Tourismus gewesen, wie
die Schmalspurbahnen, die im Ostteil des Harzes erhalten geblieben sind und seit
der Wiedervereinigung 1990 für Reisen zum Brocken besonders beliebt sind. 1984
wurde die Strecke von Odertal bis zum Hauptbahnhof stillgelegt, sodass der kleine
Bahnhof Kurpark seine Funktion nicht mehr innehatte und zu einer Gaststätte
umgewidmet wurde. Diese existiert nun auch nicht mehr, stattdessen ist auf dem
Gelände gegenwärtig eine Baustelle zur Errichtung von modernen Wohnungen.
Die Bahngleise verliefen direkt hinter den Häusern der Oderpromenade. Wegen
der unbeschrankten Bahnübergänge in der Nähe hatten sich die Züge jeweils mit
lautem Pfeifen hinter unserem Haus angekündigt.
Dieses Gelände ist nunmehr von der Stadt an die Anwohner verkauft worden und wird hier als Parkmöglichkeit für Privatautos genutzt. – Schließlich gab es ja zu der Zeit, als die Promenade Anfang des 20. Jahrhunderts angelegt wurde, noch nicht das heutige Verkehrsaufkommen mit den Privatautos. Man fuhr mit der Bahn. So bin auch ich Ende der vierziger Jahre täglich zur Oberschule nach Osterode gefahren, wobei ich zweimal umsteigen musste, einmal in Scharzfeld und dann noch in Herzberg, was insgesamt viel Zeit in Anspruch nahm und sehr frühes Aufstehen bedeutete, zuweilen musste man schon vor 6 Uhr morgens am Bahnhof sein. Meine 6 Jahre ältere Schwester, die noch in der Zeit des Krieges zur Schule ging, hatte die direkte Strecke von Scharzfeld nach Nordhausen benutzen können, die jetzt wieder offen ist.
Lauterberg hatte durch die beiden Kriege erhebliche Einbrüche in der Wirtschaft, danach ging die Entwicklung als Ort für den Fremdenverkehr stetig weiter, und nahm verschiedene Formen an. Grundlage sind bis heute die Vorzüge der Natur mit den Bergen, dem Wald der guten Luft und dem sauberen Wasser. In der Kaiserzeit wurde insbesondere das milde Klima des Südharzes gelobt, als besonders günstig für die Sommerfrische, wie in dem „Führer durch Bad Lauterberg“ von 1892 angepriesen, der mir als Reprint von 1982 erhalten ist. Darin werden die Wanderziele in der Umgebung detailreich beschrieben und es findet sich auch ein Lageplan des Ortes im Anhang.
Nach dem Ersten Weltkrieg ging man über zur Förderung der Gesundheit auf ganzheitlicher Grundlage.
Man folgte der Lehre von KNEIPP, die generell auf fünf Prinzipien beruht: Hydrotherapie/Wasseranwendungen,
Bewegung, gesunde Ernährung, Physiotherapie sowie Lebensordnung und Gesundheitserziehung. 1082
kamen noch Schrothkuren hinzu, die allerdings nur 10 Jahre lang praktiziert wurden. Seit 1926 gehört
Lauterberg nun zu den anerkannten Kneipp-Heilbädern. 1986 errichtete man eine Kneipp-Büste direkt
am Kurhaus mit der Aufschrift ER WIES UNS DEN WEG ZU GESUNDHEIT UND LEBENSFREUDE.
Im Laufe des nunmehr schon 184 Jahre währenden Kurbetriebs mit guten und weniger guten Phasen wurde die entsprechende Infrastruktur stetig aus und umgebaut. Heute gibt es immer noch den großen Kurpark mit Kurhaus und Anlagen für Kurkonzerte, auch ein Tanzcafe! Manche früheren Sanatorien sind umgewandelt in Hotels mit Wellnes-Abteilungen. Dazu haben sich sportlich orientierte Häuser angesiedelt und medizinisch ausgerichtete Kliniken. – Man kann die vielfältigen Angebote natürlich auf den entsprechenden Webseiten im Internat anschauen.
Der gesamte Kurpark ist inzwischen mehr und mehr für alle geöffnet, d.h. die vorhandenen Absperrungen werden nur für besondere Veranstaltungen genutzt. Erfreulich fand ich die Einrichtung eines weitläufigen Kinderspielplatzes im Kern des Parks, dessen Eröffnung gerade 2018 kurz nach meiner Ankunft hier stattfand. – Wegen der Corona-Krise gab es wochenlang die Sperrung, während man sich auf den Wegen jedoch frei bewegen konnte, was die Familien mit kleinen Kindern und ihren Rädern ausgiebig nutzten.
Die staatlich verordnete Schließung sämtlicher touristischer Anlagen seit Mitte März 2020 bedeutet zweifellos wieder einen heftigen Rückschlag in der wirtschaftlichen Entwicklung des Ortes. Andererseits kann man erwarten, dass nach dem Höhepunkt der Pandemie viele Menschen ihren Sommerurlaub in Deutschland verbringen werden, wenn sie auf die sonst üblichen Fernreisen verzichten müssen.
Bei einem Spaziergang durch den Kurpark entlang der ehemaligen Bahntrasse, welche nun zum Teil Radfahrweg geworden ist, fallen mir zahlreiche Gedenksteine und Tafeln auf. Sie deuten zurück auf die Geschichte und sind Hinweise auf die, starke Erinnerungskultur des Städtchens.
Hier findet man in dichter Folge ausgehend vom ehemaligen Bahnhof Kurpark
1. Einen Stein mit Tafel und Aufschrift “Zur Erinnerung an die Jahrhundertfeier der Völkerschlacht bei Leipzig - 1913“
2. Ein Holzschild an einer Eiche mit der Aufschrift „Waterloo-Eiche – 15.7. 1865“
3. Einen Stein mit dem Namen und den Lebensdaten von SEBASTIAN KNEIPP – 1821 – 1897
4. Eine kleine Statue JOHANN SCHROTH auf einem Sockel mit der Aufschrift „Johann Schroth, Begründer des Naturheilverfahrens. 10 Jahre Schrothverein Bad Lauterberg 1982 – 1992“
5. Ganz in der Nähe gibt es einen kleinen Teich mit einer Tafel „Johann Schroth- Teich, Schrothverein“
6. Einen Baum mit Tafel am Boden “Erinnerungs–Eiche an die deutschen Ostgebiete, gepflanzt im 20. Jahr der Vertreibung der deutschen 1966“
Am Ende der Strecke steht das auffallend große Hotel REVITA mit 260 Zimmern. Es wurde in der Zeit der deutschen Teilung 1972 gebaut. Das Gebäude schließt gewissermaßen das Tal der Oder nach Osten ab. Zunächst nannte man es Sport- und Kurhotel und heute Wellness–Hotel und Ressort. Es verfügt über 260 Zimmer, hat 5 Sterne und erlaubt auch große Hunde, wie man in Internet erfahren kann – und bei Vollbelegung an unserer Promenade erlebbar ist. -Daher gibt es in der Nähe auch vermehrt dogstations zur Hundekotentsorgung.
Das Gelände des Hotels war früher der Schützenplatz gewesen, wo in unserer Jugend noch jeweils der Jahrmarkt abgehalten wurde, damals das Hauptereignis des Jahres! Aus der Zeit davor ist noch ein originaler Gedenkstein erhalten, der sog. „Verlobungsstein“. Er wurde letztes Jahr auf ein neues Fundament gesetzt und die Inschrift sorgfältig renoviert. Sie lautet: Setzt sich ein holdes Mägdelein um Mitternacht, doch ganz allein, voll Zuversicht auf diesen Stein, wohl über`s Jahr wird Braut sie sein.
Offenbar ein Relikt aus der „guten alten Zeit“
Selbstverständlich gibt es auch ein Kriegerdenkmal
zum Andenken an die Gefallenen
aus den „ruhmreichen Feldzügen“ 1864, 1865 und 1870/71.
Zum Schluss des Abschnitts über Bad Lauterberg möchte ich noch auf zwei besondere Punkte eingehen, die in den Chroniken wenig bzw. keine Beachtung gefunden haben. Das betrifft zum einen das Andenken an die Person Hermann von Wissmann, überlebensgroß in Bronze gegossen und als Denkmal im großen Kurpark eigentlich unübersehbar aufgestellt. Zum anderen geht es um die Zeit des Nationalsozialismus, deren letzte vier Jahre bis zum Kriegsende ich als Schülerin ja miterlebt habe. Damals war Lauterberg ein wichtiger Standort der Rüstungsindustrie. Es gab die Schickert-Werke im Odertal, wo der Treibstoff für die sog. V-Waffen mit Hochdruck entwickelt und hergestellt wurde. Ihre Existenz war den Lauterbergern bekannt. Für Details interessierte man sich nicht, am allerwenigsten für die Fremden, die dort in Lagern untergebracht waren und Zwangsarbeit leisten mussten. Erst nach 1990 wurde dieses Kapitel aufgearbeitet und in einer Broschüre der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Auch sorgte man dann für die Pflege der Begräbnisse und stellte auf dem Friedhof einen Gedenkstein auf.
Die Schickert-Werke wurden 1945 demontiert, die leeren Hallen 1992 gesprengt. In der Nachkriegszeit habe ich sie bei manchen Radtouren nach St. Andreasberg im Tal der Oder liegen sehen. Das Gelände soll nun zur Errichtung von Ferienwohnungen genutzt werden. Auch ist geplant, dort eine Tafel zur Erinnerung an die katastrophalen Geschehnisse der Hitlerzeit aufzustellen. In diesem Punkt folgt Bad Lauterberg ganz dem Trend in der geteilten Bundesrepublik. Erst nach der Wiedervereinigung und dem Erstarken der rechten völkischen Ideologie nach 1990 hat man sich verstärkt mit dieser Phase der Geschichte auf lokaler Ebene befasst. 1994 gab es eine Ausstellung zum „Leben unter dem Hakenkreuz“. Damals hieß die Hauptstraße natürlich „Adolf-Hitler-Straße“ und der kleine Kurpark „Hindenburgplatz“.
Ich selbst habe Erinnerungen an Heimabende der Hitlerjugend in einem Gebäude am sog. Felsenkeller, direkt auf einer kleinen Anhöhe links am Fluss gelegen. Ich fragte jetzt bei Einheimischen nach, konnte jedoch keine Bestätigung dafür bekommen. Ähnlich erging es mir bei dem Thema Jugendweihe in der evangelischen Kirche. Ich erinnere mich lebhaft daran, dass mein Bruder 1944 diese erhielt und zusammen mit anderen Kameraden in Uniform auf der Empore vor der Orgel stand. Im Sekretariat der Kirche konnte ich keinerlei Bestätigung dafür finden, wohl aber in der Korrespondenz meiner Mutter mit einer Familie in Wiesbaden. - Das waren wohl die Wirtsleute meines Vaters bei der Einquartierung als aktiver Offizier. – Dabei ging es um die Anfrage, ob man in der größeren Stadt eine dunkle Skihose für die Uniform des Jungen finden könne. In der Antwort schreibt Frau T., die Gattin eines Unternehmers und selbst Sekretärin der Partei, leider gäbe es auch dort so etwas nicht mehr zu kaufen, aber ihr Mann könne ja seine Skihose für die Feier ausleihen!
In Hinsicht auf die geringe Beachtung der Relikte aus der Hitlerzeit ist Lauterberg generell keine Ausnahme. Es ist auch nachvollziehbar und verständlich, dass man in Jubiläumsschriften und Broschüren für den Fremdenverkehr nicht auf die dunklen Phasen der Geschichte detailliert eingeht. Das stille Übergehen scheint geboten. In der Hinsicht ähnlich und dennoch ganz anders ist die die Lage in einem anderen Punkt. Sie betrifft die Person des
Hermann von Wissmann, die überlebensgroß in Bronze gegossen seit 1908 im großen Kurpark aufgestellt ist und auch in anderen Zusammenhängen wie selbstverständlich zu Lauterberg gehört. Aus meiner Jugendzeit ist mir dieses Standbild nicht erinnerlich. - Man kam damals selten in den Kurpark, wohnten wir doch in einer Siedlung, etwas außerhalb des Kernortes und hatten wenig Muße. - Hier in Lauterberg gibt es eine „Wissmannstraße“, ein sog. „Heimathaus“ und das Heimatmuseum hat einen ganzen Raum für die Dokumentation seines Wirkens eingeräumt. Man spricht zuweilen auch vom Wissmannpark und Wissmannteich, wenn vom Kurpark die Rede ist.
Wer war Hermann von Wissmann und wie kam es zu dieser engen Beziehung zu Bad Lauterberg? Mit dieser Frage habe ich mich eine geraume Zeitlang beschäftigt und muss feststellen, dass eine Charakterisierung nicht einfach ist.
Das Denkmal wurde sehr schnell nach dem Tode Wissmanns von dem Künstler Johann Götz geschaffen. Es ist ein Teil der Erinnerungskultur Deutschlands und nicht unumstritten, wie meine Nachforschungen ergaben, ein Relikt aus der Kolonialgeschichte. Es führt uns zurück in die Zeit der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft (DOAG), der Entstehung der deutschen Kolonien – und worin liegt die Beziehung zu Bad Lauterberg?
Zunächst halte ich mich an die Inschriften im Ort. Unter dem Straßenschild „Wissmannstraße“, der Hauptdurchgangsstraße, die übrigens zuvor Lindenstraße hieß, befindet sich ein zweites Schild, auf blauem Grund steht dort „Deutscher Afrikaforscher“ mit den Lebensdaten 1853-1905. An dem ganz in der Nähe befindlichen denkmalgeschützten Haus Nr. 14 lese ich auf einer Tafel „Heimathaus des Gouverneurs v. Wissmann 1881-1905“. Es handelt sich dabei jedoch nicht um sein Geburtshaus, wie jeder flüchtige Besucher annimmt. Vielmehr war es das Wohnhaus seiner Mutter und Schwestern.
Das imposante Denkmal im Kurpark präsentiert den Afrika-Forscher Wissmann. Auf der Rückseite ist sein Wahlspruch auf einem Felsstein in lateinischer Sprache eingraviert INVENIAM VIAM AUT FACIAM mit der deutschen Übersetzung darunter „Ich finde oder ich mache mir einen Weg“. Außerdem gibt es zwei Tafeln. Die Haupttafel am Sockel ist Ausdruck des nationalen Stolzes. Sie enthält die Inschrift „Deutschlands großem Afrikaner Hermann von Wissmann, geb. den 4. Sept. 1853, gest. den 15. Juni 1905. Das dankbare Vaterland“.
Eine zweite am Boden deutlich später aufgestellte Tafel in Frakturschrift bezieht sich auf die Herrschaftspraktiken in den Kolonien. Da heißt es entschuldigend und sehr wolkig: „Er kämpfte erfolgreich gegen den Sklavenhandel und für die Freiheit der Unterdrückten“. Kein Datum, keine Unterschrift.
Beide Inschriften sind sehr allgemein formuliert. Sie enthalten jedoch deutlich politische Aussagen Wissmann gilt also als ein Nationalheld. Er war ein Forscher und als Militär verfolgte er ethische Ziele. Kein Wunder, dass die reichlich vorhandene Literatur über seine Person zumeist Verehrung ausstrahlt. Daneben gibt es aber auch deutlich kritisch geprägte Beiträge. Die untere Tafel lässt die Konfliktlinien erkennen. Sie ist vermutlich nach den Studentenprotesten 1968 aufgestellt worden und steht sicherlich in einem Zusammenhang mit den Vorfällen um ein anderes bedeutend größeres Wissmann-Denkmal.
Dieses von Adolf Kürte geschaffenen Werk ist ein Ensemble, das 1909 in Daressalam, dem heutigen Tansania, errichtet worden war. Es zeigte Wissmann in der Pose des Herrschers und dazu einen einheimischen Askeri (Söldner) sowie einen erlegten Löwen bedeckt mit einer Reichskriegsflagge - und hat ein sehr bewegtes Schicksal aufzuweisen. Denn nach dem ersten Weltkrieg war es 1919 zunächst nach London geschafft worden und 1922 dann nach Hamburg, wo es einen Platz auf dem Universitätsgelände, das früher Kolonialinstitut gewesen war, erhalten hatte. Im Nationalsozialismus war das Denkmal zu einer zentralen Weihestätte für die ehemaligen deutschen Kolonien geworden. Im April 1945 stürzte die Figur bei einem Luftangriff vom Sockel, 1949 wurde das Denkmal wieder hergestellt. Nach anhaltenden Protesten der Studentenschaft musealisiert, wurde es letztlich im Keller der Sternwarte Hamburg-Bergedorf eingelagert.
Von Lauterberg sind keine entsprechenden Proteste gegen das Wissmann-Denkmal bekannt. Jedoch hat es 1945 Überlegungen zum Abriss gegeben – und wie mir ein Mitglied der hiesigen Archivgemeinschaft berichtete – habe damals ein britischer Besatzungsoffizier geäußert: „Bei uns würde man so ein Denkmal stehen lassen“. Somit schmückt es weiterhin den Kurpark am Teich.
Der Bezugspunkt dieser Aktionen - Denkmalsturz und Aufstellung einer Erinnerungstafel - ist das Wirken Wissmanns als Reichskommissar 1884/85 zur Niederschlagung des sog. Araberaufstands mit der brutalen Methode der verbrannten Erde. Die Bewohner des Küstenstreifens gegenüber der Insel Sansibar – es waren nicht nur Sklavenhändler - hatten sich gegen die deutschen Eindringlinge zur Wehr gesetzt. Der Anlass war das Hissen der Flagge der DOAG als Hoheitszeichen. Die Handelsgesellschaft hatte sich nicht hinreichend wehren können, woraufhin die kaiserliche Regierung den Afrikakenner und Militär Wissmann in das Gebiet entsandte, ausgestattet mit Mitteln für die Aufstellung eines Söldnerverbandes. Der war schließlich zusammengesetzt aus 61 deutschen Offizieren und Unteroffizieren sowie 700 einheimischen Soldaten, den sog. Askeris. Diese sog. Wissmanntruppe wurde zum Kern der späteren Schutztruppe für die Kolonie Deutsch-Ostafrika, die das Reich zur Verteidigung der Missions- und Handelsstationen ab 1891 in Afrika dann ständig unterhielt. Nach dem ersten Weltkrieg wurde sie im Zuge des Verlusts der deutschen Kolonien aufgelöst. Geblieben ist ein Veteranenverband, dessen Mitglieder über Jahrzehnte einmal jährlich in Lauterberg erschienen, die „Afrikaner“, wie man vor Ort sagte. Mittlerweile sei es still um sie geworden.
Doch Mitte Oktober letzten Jahres (2019) bemerkte ich, dass ein Blumengebinde mit Schleifen neben der unteren Tafel niedergelegt worden war.
Auf der linken Schleife war zu lesen „Unseren teuren Toten ein ehrendes Andenken“, auf der rechten dann „Traditionsverband ehemaliger Schutz- und Überseetruppen – Freunde der früheren Schutzgebiete e.V.“, versehen mit der offiziellen Verbandsflagge. Es handelt sich dabei um die sog. Petersfahne, die Fahne der DOAG, die in abgewandelter Form auch in der Hitlerzeit genutzt wurde.
Nach dem zweiten Weltkrieg waren weiter bestehende Kameradschaften und der Deutsche Kolonialkriegerbund 1956 zu einem Dachverband zusammengeschlossen und 1983 mit dem Zusatz „Freunde der früheren deutschen Schutztruppen“ versehen worden. Zahlreiche Straßen hatten zur Hitlerzeit erst den Namen Wissmanstr. erhalten.
Ich wurde neugierig. Wer war also Wissmann, der heute noch in dieser Form geehrt wird - eine Person, deren Ruhm im Nationalsozialismus ebenso wie in der Kaiserzeit und in unserer Bundesrepublik hochgehalten wird? Wie war sein Umfeld? Welches waren seine Ziele?
Hier spielt Carl Peters eine entscheidende Rolle. - Im „Kolonialjahr“ 1934 war eine Briefmarkenserie von der Reichspost herausgegeben worden mit den Portraits bekannter Persönlichkeiten der deutschen Kolonialgeschichte. Neben Wissmann wurde damals auch Carl Peters auf diese Weise geehrt. - Peters gilt als der Begründer der Deutsch - Ostafrikanischen Kolonie. 1884 hatte er die Gesellschaft für deutsche Kolonien in Berlin ins Leben gerufen, den Vorläufer der DOAG, deren Vorsitzender er lange Zeit war. Wegen seines rüden, unlauteren Vorgehens bei der Landnahme in Afrika war er von der kaiserlichen Regierung gemaßregelt worden, 1897 unehrenhaft aus dem Reichsdienst entlassen, in der Weimarer Republik verpönt und nach 1933 als Kolonialheld gefeiert. Sein Denkmal in Hannover wurde in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nach Protesten in ein Mahnmal gegen den Kolonialismus umgestaltet.
Soviel zu den Manifestationen des kollektiven Gedächtnisses in Deutschland. Bleibt für mich die Frage, welche Rollen hatte Wissmann zu seinen Lebzeiten inne und wie ist der Bezug zu Bad Lauterberg zustande gekommen?
Wissmann war zweifellos in der Frühphase des deutschen Kolonialismus eine zentrale Figur. Er hatte eine militärische Ausbildung genossen und sich als junger Leutnant für die Teilnahme an Expeditionen in Zentralafrika beurlauben lassen. In den achtziger Jahren durchquerte er zweimal den Kontinent südlich des Äquators von West nach Ost. Er war also ein Entdecker und Forscher, der wesentlich zu dem Wissen über das Kongobecken und den Nebenfluss Kasai beigetragen hat. Es war damals die Zeit des „Wettlaufs um Afrika“ verbunden mit der Begeisterung für Reiseberichte aus exotischen Ländern, was seinem Wirken große Aufmerksamkeit verlieh.
Als Militär schlug er im Auftrag der Reichsregierung 1888/89 die Aufständischen in der noch jungen Kolonie nieder, erlangte als Offizier den Rang eines Majors und wurde in den Adelsstand erhoben. 1895 wird er zum Gouverneur ernannt, welches Amt er jedoch nur kurz (bis Dez. 1896) ausübte. Kommandeur der Schutztruppe war zu der Zeit der besonders hart agierende Lothar von Trotha. Wissmann ließ sich wegen Krankheit beurlauben und ließ sich unmittelbar darauf in den Ruhestand versetzen.
Der politische Rahmen seines Wirkens als Afrikaforscher war durch die Ambitionen des belgischen Königs Leopold II gegeben, der die Entdeckungsreisen förderte und finanziell ermöglichte. Die Expeditionen zwischen 1881 und 1887 dienten vor allem dem Ziel der wirtschaftlichen Nutzung und ermöglichten letztendlich die Gründung des Freistaats Kongo als persönliches Eigentum des Königs. Wegen gröbster Menschenrechtsverletzungen wurde das Land später vom belgischen Staat übernommen. Zudem war durch die Aktivitäten des Carl Peters, ein deutsch-nationales Programm in Ostafrika angelaufen. Peters hatte sich als Lebensaufgabe die Schaffung von Kolonien für Deutschland mit allen Mitteln vorgenommen.
Wissmann war also kein Initiator, eher ein tatkräftiger Ausführender, zuletzt diente er als Beamter des Reichskolonialamts in Berlin. Zweifellos kann er als Pionier der Kolonialgeschichte angesehen werden. Sein Wirken erfolgte im Rahmen der derzeitigen politischen Bestrebungen. Er ging frühzeitig, im Alter von nur 43 Jahren, in Pension und widmete sich seiner Leidenschaft, der Jagd. Solcherart Reisen führten ihn nach Sibirien und Südafrika. Er starb bei einem „Jagdunfall“, wie es heißt, auf seinem eigenen Jagdgebiet in der Steiermark, wo er ein Landgut erworben hatte.
Und wie kam es zu der Bedeutung für Bad Lauterberg, die durch solch ein großes Denkmal bis in unsere Gegenwart augenfällig ist und im Heimatmuseum reichhaltig dokumentiert wird?
Die Beziehung Wissmanns zu diesem Ort ist privater Natur. Für Lauterberg war er eine Art „Aushängeschild“. Es war die Zeit des wirtschaftlichen Aufstiegs in Preußen und die Blütezeit des Kurbetriebs. Wissmann brachte einmaligen Glanz in das Städtchen. Er hatte beigetragen zur Vermehrung von „Ruhm und Ehre“ des Kaiserreichs zu Erlangung und Festigung eines „Platzes an der Sonne“, und damit waren enge Kontakte zu der Reichshauptstadt Berlin verbunden. So konnte sich etwas von seinem Ansehen und seiner Popularität auf Lauterberg übertragen. Er brachte Farbe in das gesellschaftliche Leben, war ein willkommener Gast im Ort und wurde entsprechend gefeiert. Das Heimatmuseum bezeugt diesen Zusammenhang überdeutlich. Dort sind die vielfältigen Aktivitäten und Ehrungen des gefeierten Mannes dokumentiert.
Wie oben schon bemerkt, hatte sich seine Mutter mit ihren Töchtern 1881 in Lauterberg niedergelassen und der Sohn ihr beim „Heimaturlaub“ häufig Besuche abgestattet. Auf manchen Fotos sehen wir auch eine Art von Mitbringsel, die zu der Zeit nicht unüblich war. Es sind zwei afrikanische schwarze Jungen - Geschenke eines Häuptlings - ,die in Lauterberg ankamen, von der Mutter versorgt wurden und in die örtliche Schule gingen. Der jüngere wurde nach entsprechender Unterweisung auch getauft und bekam einen christlichen Rufnamen.
Das Foto „Wissmann und die Seinen“ zeigt in dem Arrangement die Position des farbigen Mitglieds der Familie. Die Hierarchie ist deutlich: stehend zentral der erfolgreiche Herr, Mutter und eine Schwester sitzend, eine seitlich stehend, hockend der Junge und schließlich liegend die Hunde.
Das gesellschaftliche Leben der höheren Schichten florierte Ende des 19. Jahrhunderts, entsprechende Kontakte kamen der Entwicklung des Heilbades zugute. Zu nennen ist hier besonders das Wirken von Sanitätsrat Dr. Tischmann aus Berlin, der aus gesundheitlichen Gründen die Hauptstadt verlassen hatte und in Lauterberg für sich und seine Familie ein prächtiges Haus in herrlicher Lage bauen ließ. Mit Wissmann verband ihn eine innige Freundschaft. Die Fülle der Wissmannschen Jagdtrophäen in Tischmanns „guter Stube“ illustriert das sehr lebhaft.
Auch er hat deutliche Spuren hinterlassen, jedoch anderer Art.
Als Präsident des Lauterberger Zweigvereins des Harzklubs initiierte er 1904 den Bau des Bismarckturms auf dem Kummelberg und des Knollenturms als attraktive Wanderziele mit weitreichendem Ausblick. Zudem beförderte er das Bemühen der Stadt um den offiziellen Titel „Bad“ (seit 1906) und kümmerte sich um die Errichtung des Kriegerdenkmals im kleinen Kurpark.
Für die Geschichte Lauterbergs ist Wissmann kaum wegzudenken. Die Verehrung und das Interesse an der Person zeigt sich auch in der Tatsache, dass ein Mitglied der Archivgemeinschaft, Max Walsleben, Ende der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in die Steiermark reiste und das Landgut besuchte, das von den Wissmann-Erben derzeit noch museal aufrecht erhalten wurde. Sein ausführlicher Bericht über die sehr freundliche Aufnahme und das, was dort an Trophäen und anderen Artefakten ausgestellt wird, strahlt extreme Hochachtung aus. Dem reich bebilderten Text entnehme ich auch, dass Wissmanns umfangreiche Tagebuchaufzeichnungen nunmehr (nach dem zweiten Weltkrieg) in dem von Leopold II gegründeten königlichen Museum über Zentralafrika in Brüssel aufbewahrt werden. – Eine europäische Dimension der Kolonialgeschichte!
Bleibt noch zu ergänzen, dass unsere Mutter (geb.1901) in den achtziger Jahren das jährliche Treffen der „Afrikaner“ in Bad Lauterberg, wie die Vertreter des Traditionsverbands der Schutztruppen hier genannt werden, immer sehr aufregend und interessant fand, erinnerte es sie doch an die Denk- und Gefühlswelt ihrer Jugend in der Kaiserzeit. Sie hatte die Broschüre ja auch für ihre Nachkommen sorgfältig aufbewahrt.









































TEIL I
DER ANFANG
TEIL II
DER NEUE WOHNSITZ
BAD LAUTERBERG IM HARZ
EIN RÜCKBLICK
DER ABSCHIED
DER UMZUG
DER ABGANG
Im zweiten Jahr der Eingewöhnung blieb mir noch eine wichtige Aufgabe zu bewältigen. Sie betrifft die Sondierung der Sachen im Inneren der Schränke, vor allem in einem Kellerraum, den unsere Mutter überreichlich gefüllt hatte. So begann ich in der dunklen Winterzeit 2019 mit der Sichtung der aufbewahrten Briefe, Dokumente, Fotos und anderer Schriftstücke. Das Öffnen der noch vorhandenen Umschläge und Kartons und das Anlesen der Briefe etc. dauerte Monate. Es war erst im Frühjahr vorläufig abgeschlossen. Die Mühe hat zum Ziel, meinen Nachkommen mindestens eine grobe Übersicht des Vorhandenen zu ermöglichen, also eine Art Familienarchiv zu erstellen mit anschaulichem Material aus der Zeit vor der digitalen Wende!
Wie aus dem oben abgebildeten Lageplan von 1899 ersichtlich, hat das Haus sehr viele Räume. Die Toiletten waren ursprünglich im Treppenaufgang auf halber Höhe installiert, die Küche befand sich im Keller. Als wir 1941 hier ankamen, war schon ein Zimmer im Parterre als Küche eingerichtet, jedoch gab es noch kein Bad und keine Zentralheizung. Diese wurden später in verschiedenen Schüben eingerichtet, vornehmlich in den zwei oberen Etagen, die ständig vermietet sind. Dabei ergaben sich sog. Nebenräume, in denen man Sachen abstellen kann, was reichlich von Familienangehörigen – mich eingeschlossen – genutzt wurde und wird. Vor allem aber war es unsere Mutter, die ein fast unstillbares Bedürfnis zum Aufheben von Sachen hatte. Am wichtigsten waren ihr die eigenen Schreibprodukte, Gedichte, Notizen, Kontoübersichten von Banken. Selbst geschriebene Briefe verlangte sie meist zurück mit der Bemerkung, sie dienten als Tagebuchaufzeichnungen. Briefe von anderen bekamen Notizen und Anmerkungen bezüglich der Beantwortung. So kann man viele Korrespondenzen rekonstruieren. – Natürlich fand ich auch Briefe von mir selbst in dem Konvolut. Es war eine interessante und aufregende Beschäftigung für mich, denn ich bekam neue Einsichten in das, was ich schon erlebt hatte und glaubte verarbeitet zu haben.
Zum Ordnen braucht man übergreifende Kategorien. In meinem Fall waren sie nicht von vornherein gegeben. Es bot sich der chronologische Aspekt an. Wann wurde das Dokument erstellt? Dabei kann man sich an eine allgemeine Epocheneinteilung anlehnen, politische Kriterien heranziehen. So ergeben sich für unsere Familie die Zeitspannen
-
Die Kaiserzeit, der Krieg 1914 - 18
-
Die Weimarer Republik
-
Die Hitlerzeit 1933-39 mit dem Krieg 1939 - 45
-
Die Zeit danach 1945 – 1990
Zweifellos ist die Chronologie das stringenteste Kriterium im Hinblick auf die aktuelle Bearbeitung und das spätere Auffinden von Material. Aber ist es auch das sinnvollste, wenn ich mich frage „Für wen erstelle ich das Archiv?“ Die Enkel, die Urenkel? Werden sie das Interesse, die Zeit und Muße haben, alles durch zu schauen? Oder wird wegen der großen Fülle des Materials später Alles im Container landen und entsorgt werden? Vielleicht zuvor noch digitalisiert?
Relevanter erscheint sicherlich der Aspekt der Nutzbarkeit. So kommt man etwa zu einer thematischen Ordnung, wobei relevante Ereignisse herausgehoben werden, z.B. die Scheidung meiner Eltern.
Unverzichtbar ist auch der Personenbezug. Schließlich gibt es aussagekräftige Fotos, dazu Briefe und Karten zu Familienfeiern, Geburts- und Todesfällen etc., die die Schreiber und Adressaten in ihren Rollen und in ihrem sozioökonomischen Umfeld charakterisieren.
Schließlich hatte sich bei mir automatisch auch das Kriterium der Wichtigkeit eingeschlichen, eine Beurteilung der Qualität. Ist das Dokument aussagekräftig, einzigartig oder eher eine Verdoppelung der Aussagen, stete Wiederholung. Diese Auswahl ist zweifellos subjektiv gefärbt, von meiner Entscheidung abhängig. Sie war aber notwendig, um die schiere Menge zu reduzieren. So habe ich viele Umschläge und konventionelle Kurzbriefe, etwa Weihnachtskarten etc. dem Papiermüll zugeführt.
Letztendlich kam es zu einer Mischung der verschiedenen Aspekte. Das vorläufige Ergebnis sind diverse Mappen mit Beschriftung in Kisten (s. Foto oben), auf die man zugreifen kann, wenn man spezifische Fragen hat und mehr wissen möchte. Dazu gibt es eine eigene Kiste mit Schriftstücken in chronologischer Reihenfolge.
Meine Schwester Gisela, 6 Jahre älter als ich, hatte zuvor schon in der Hinsicht gearbeitet. Sie hatte mehrere Ordner und Fotoalben angelegt, außerdem manche Fotos der Vorfahren gerahmt und Wände damit dekoriert. Andere wertvolle ältere Dokumente wurden gesondert aufbewahrt. Insgesamt ging es auch ihr darum, den nachfolgenden Generationen nützliche Hinweise zum Verstehen der Lebensverläufe unserer Eltern- und Großeltern zu zeigen.
In der kurzen Darstellung hier gehe ich von meiner persönlichen Betroffenheit aus, mein Zugang ist dem Hier
und jetzt geschuldet und subjektiv gefärbt. Zentral sehe ich die Person unserer MUTTER. Sie war zweifellos
eine ungewöhnliche Frau, die deutliche Spuren auch in Lauterberg hinterlassen hat. Eine etwas skurille
Anekdote mag das verdeutlichen: Bei meinen täglichen Spaziergängen im Kurpark unterhalte ich mich
häufig mit einer älteren Frau, die ihren Hund etwa zur gleichen Zeit ausführt. Es stellte sich zunächst
heraus, dass sie mit meinen Cousinen zusammen zur Schule gegangen war, also das Haus und meine
Tante, Frau Simon, kannte. Diese Frau ist die Witwe des früheren Installateurs des Ortes. Als dann der Name
meiner Mutter, Frau Drekmann, fiel, erzählte sie Folgendes: Damals, in den achtziger Jahren, habe man in der
Firma schmunzelnd darüber gesprochen, dass sie bei Frau Drekmann im Wohnzimmer eine Toilette eingebaut
hätten. Ich habe diese Frau dann eingeladen, sich das Objekt anzuschauen, welches ich erhalten habe. Das
sog. Wohnzimmer war auch Schlafzimmer meiner Mutter, und sie hatte gegen den ausdrücklichen Wunsch
ihrer Schwester heimlich aus praktischen Gründen diese Anschaffung gemacht. Das Zimmer ist nun eines
meiner Gästezimmer und wird von manchen Freunden bevorzugt benutzt, gerade wegen der dortigen Toilette.
Unsere Mutter Ilse, geb. 1901, gest. 1995, durchlebte fast das gesamte zwanzigste Jahrhundert. Zwei Aussprüche von ihr klingen noch heute lebhaft in meinen Ohren. Es ist zum einen: Ich schaffe es nicht, und zum anderen: Ich habe mein Leben geopfert für meine drei Kinder. Für meine Geschwister und mich ergab sich daraus eine nicht geringe Belastung. Schaue ich mir die Stationen ihres Lebenswegs an und ziehe die Zeitumstände mit in Betracht, so kann ich im Nachhinein vieles verstehen.
Ilse wuchs in einem behüteten Elternhaus in Görlitz auf. Sie war ein braves Kind und eine Musterschülerin. Eine gute Schulbildung, bestehend aus privater Vorschule und anschließendem Lyzeum war garantiert. Sie wurde geliebt von ihren Eltern. Der Vater hatte in der Stadt eine angesehene Stellung als Stadtbaurat. Die Mutter war „Frau Stadtbaurätin“. Drei Jahre später wurde eine Schwester geboren. Ilse nahm sich ihren Vater, den Dipl.- Ing. Dr. Heinrich Küster, als Vorbild und wollte ein tadelloses, verantwortungsvolles Leben führen. Sie hatte Ideale und Prinzipien. Doch konnte sie ihren hohen Ansprüchen zweifellos nicht durchgehend gerecht werden. Die Zeitumstände, vor allem jedoch die Partnerwahl standen im Wege. Viele Fotos zeigen den gesellschaftlichen Rahmen. Hier die Mutter mit ihren beiden Töchtern und das Konfirmationsbild.
Ilse wollte Lehrerin werden. Die Ausbildung war vor Ort nicht möglich – und man erlaubte ihr nicht, in einer fernen Stadt allein zu leben, da ja eine Heirat vorgegeben war. Später in der Rückschau sprach sie oft von ihrer goldenen Zeit der Kindheit. Mit dem ersten Weltkrieg kam der erste Einbruch in das gewohnte bürgerlich geprägte stabile Lebensgefühl. Ilse war fortschrittlich, liebte die Natur und setzte es durch, eine Gärtnerlehre beginnen zu dürfen. Dort war sie das erste Mädchen in einem männer-dominierten Umfeld. Zu dem Zweck nähte sie sich eine Arbeitshose „damit die Jungen nicht unter die Röcke schauen konnten“.
Der Krieg ging nach vier Jahren nicht siegreich zu Ende, wie es in Preußen vor der Gründung des
Kaiserreichs alsTradition vorgegeben zu sein schien. Die folgende Zeit der ersten deutschen Republik
wurde als katastrophal wahrgenommen. Die politische Situation war in hohem Maße instabil, doch
für Ilse stand eine Heirat und Familiengründung an. Als Ehepartner fand sich der sechste Sohn
einer befreundeten Familie mit Wohnsitz in Oberhausen. Die langjährigen Vorbereitungen für
die standesgemäße Hochzeit liefen nun allerdings ins Leere, denn 1922/23 war die Zeit der
französischen Besetzung des Rheinlandes und der Hyperinflation. Die Ersparnisse für die Aussteuer
waren so geschrumpft, dass nur die Anschaffung einer Nähmaschine noch möglich war. Die Heirat
erfolgte überstürzt in Oberhausen, damit die Räume des Hauses der Schwiegereltern nicht sämtlich
beschlagnahmt würden. Das eheliche Zusammenleben wurde aufgeschoben, wie unsere Mutter bei
der Schilderung der Katastrophensituation oft betonte. Ihre Eltern konnten zur Hochzeit nicht einmal
anreisen, da die Grenze zu der besetzten Zone geschlossen war. Bei der Trauung im Privathaus trug
der Bräutigam seine blaue Uniform als Leutnant zur See in Ermangelung eines Anzugs.
Die weiteren Jahre der jungen Ehe waren ebenfalls turbulent, vor allem, weil der Gatte Richard Drekmann, geb. 1897, unser Vater, ohne Schulabschluss in die kaiserliche Marine eingetreten war, nach dem Krieg entlassen wurde und nun keine tragende zivile berufliche Basis hatte. Wie sollte er nach Maßgabe der Zeit die Rolle eines Familienoberhaupts ausfüllen? Auch er hatte einen gebrochenen Lebenslauf. Zudem war er dem moralischen Anspruch seiner Frau nicht gewachsen. – So sehe ich das heute.
Er kannte Pflicht und Gehorsam Vorgesetzten gegenüber, nahm es aber mit der Wahrheit nicht so ernst und verlor 1933 infolgedessen seinen Arbeitsplatz. In der Hitlerzeit bemühte er sich sodann frühzeitig um die Weiterführung seiner militärischen Karriere, mit Erfolg. In der Ehe aber blieben die Hoffnungen unerfüllt. Ilse war enttäuscht. Sie hatte drei Kinder. Was sollte sie tun? In der Zeit war sie wie die meisten Frauen wirtschaftlich und sozial von ihrem Mann abhängig. Sie durchlebte eine existentielle Krise, wollte sich trennen und schaffte es nicht. Ich war damals ein Baby.
Sie unterstützte dann ohne Überzeugung die Karriere ihres Mannes im System des Nationalsozialismus. Auch von Seiten des Gatten war das als dringend notwendig angesehen, denn es wurde von Hitlers Offizieren verlangt, dass sie ein geordnetes Familienleben vorweisen können. So wurde eine mögliche Trennung nicht realisiert, Ilse richtete ihr Leben ganz auf das Wohl ihrer Kinder aus, ihre ganze Energie und Kraft setzte sie dafür ein – kurz, ihr eigenes Leben hat sie geopfert, wie sie es nannte.
Und so sind wir drei Geschwister im Nationalsozialistischen System aufgewachsen. In meinen Fotoalben sind die Bilder in der damaligen Uniform festgehalten.
Unser Vater, das Familienoberhaupt, war für uns während der gesamten Hitlerzeit kaum gegenwärtig gewesen. Im September 1945 kam er als körperlich und seelisch gebrochener Mensch aus dem verlorenen Krieg ins besetzte Lauterberg. Er war sehr abgemagert und ich hörte ihn oft murmeln „Wir sind ja doch nur Kriegsverbrecher und Nazischweine“. Unsere Mutter gab sich alle Mühe, seine Gesundheit wiederherzustellen. Er begann dann, im Alter von 48 Jahren, eine Tischlerlehre, die er mit der Gesellenprüfung abschloss. Danach betätigte er sich mit der Herstellung kleiner Holzdosen und Bilderrahmen.
In der Nachkriegszeit galten alle Bemühungen den Grundlagen des Lebenserhalts, der Ernährung und Heizung. Unsere Mutter schaffte es durch Gartenarbeit, Sparsamkeit und Tauschaktivitäten, dass keiner der Familie hungerte. Doch wollte sich ein gemeinsames, harmonisches Familienleben nicht einstellen. Stets lag Spannung in der Luft. Dabei ging es vorrangig um Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Erziehung unseres Bruders. Der Vater hatte in ihn als männlichen potenziellen „Stammhalter“ viel Hoffnung gesetzt, die dieser nicht erfüllen konnte, wovon meine Mutter überzeugt war.
Unsere Schwester Gisela lebte schon seit längerem nicht mehr im gemeinsamen
Haushalt. Sie hatte eine verkürzte Lehrerausbildung in Göttingen absolviert und
eine Anstellung in Bremen bekommen. Ich selbst habe nach dem Schulabschluss
1950 mein Studium begonnen und lebte dann auch nicht mehr ständig in
Lauterberg. Derweil war die Atmosphäre in der Familienwohnung zunehmend
unerträglich geworden und so hat sich unsere Mutter schließlich auf mein
Drängen hin entschlossen, eine Besuchsreise zu unternehmen, um Abstand zu
gewinnen. Zunächst ging es nach Bremen zur ältesten Tochter und danach zu
anderen Verwandten – ohne ausdrückliche Einwilligung des Gatten, was damals
dem Eherecht zuwiderlief. Eine längere Zeit verbrachte sie auch in den
USA, wohin eine Tante mit ihrem Mann Ende des 19. Jahrhunderts ausgewandert
war. Drei Cousinen waren abwechselnd die Gastgeber. Mit denen hatte es zuvor
unmittelbar nach Kriegsende eine lebhafte Korrespondenz gegeben, als
Care-Pakete in das verarmte Deutschland geschickt wurden. Die Verwandten
haben sich kräftigt daran beteiligt und auch besondere Wünsche zu erfüllen
versucht. Diese intensive, reichhaltige Korrespondenz ist in unserem
Familienarchiv nahezu vollständig aufbewahrt. Hier eine Eigenkopie der ersten
Postkarte in die USA vom 6. April 1946
Aus Angst vor Eskalationen im häuslichen Streit beschloss Ilse schließlich, nicht zu ihrem Ehemann zurück zu kehren. Eine gütliche Trennung wollte Richard jedoch nicht akzeptieren. Sie sollte ihrer Pflicht als Hausfrau nachkommen, den Haushalt versorgen. Keinesfalls wollte er für ihren Unterhalt an einem anderen Ort aufkommen. Somit war Ilse plötzlich zu einem Flüchtling geworden, ohne eigenen Haushalt und finanzieller Absicherung. Richard argumentierte einzigmit dem Titel des „böswilligen Verlassens“. Damit brach eine sehr quälende Zeit mit schriftlich dokumentierten kontroversen Argumenten an, die auch gerichtlich ausgetragen wurden. Ilse blieb in Bremen. Meine unverheiratete Schwester trug die Last der mentalen und materiellen Unterstützung unserer in Existenznot geratenen Mutter über Jahre, was nicht unwesentlich an beider Nerven zehrte. Die nahezu 10 jährige Auseinandersetzung war zermürbend und hatte wenig Erfolg, da das damalige Eherecht die Frauen in Abhängigkeit verharren ließ. Die offiziellen Schriftstücke und begleitende private Aufzeichnungen von Mutter füllen mehr als einen dicken Aktenordner!
Hier das Scheidungsurteil vom November 1965
Es ist mir bis heute ein Schmerz, dass unser Vater kein Entgegenkommen zeigen wollte und einen vernünftigen Ausgleich für die Leistung seiner Frau nach 40 Ehejahren bei der Kinderaufzucht und Haushaltsführung anerkennen wollte. Schließlich bekam er seit der Einführung der Bundeswehr in den fünfziger Jahren als ehemaliger Offizier der Wehrmacht ein gutes Ruhestandsgehalt vom Versorgungsamt!
Unsere Mutter hatte aufgrund des jahrelangen Rechtsstreits schließlich 1/3 der Pension zugesprochen bekommen. Dieser Verpflichtung ist er jedoch keineswegs regelmäßig und ausreichend nachgekommen. Erst nach seinem Tod bekam sie 50% der Witwenrente direkt überwiesen, sodass sie im Alter ökonomisch unabhängig war. Dann zog sie von Bremen fort nach Bad Lauterberg zurück, nun in das Haus in der Oderpromenade, wo ich jetzt wohne. Hier hat sie reichlich auch Spuren hinsichtlich Verbesserungen in der Bausubstanz hinterlassen.
Von unserem Vater gibt es hingegen wenig zu berichten. Er heiratete nach seiner Scheidung erneut, und zwar eine 18 Jahre jüngere Frau, die schon zwei Ehen hinter sich hatte.. Den Kontakt zu uns Kindern hat er völlig abgebrochen und wollte auch die Enkel nicht kennenlernen. Es ist schon bitter, wenn aus solchen Gründen nur noch Zeitungsausschnitte als Dokumente für die letzte Lebensphase des Vaters vorhanden sind.
Er starb mit 78 Jahren. Ich habe einmal sein Grab in Bad Sachsa besucht und auf dem Grabstein die folgende Inschrift gesehen: „Und wir haben doch gesiegt!“. Der Grabstein ist mittlerweile verschwunden, das Grab eingeebnet, doch noch immer bin ich mir nicht sicher, worauf sich diese Aussage eigentlich beziehen soll, um welchen Sieg kann es gehen?
Noch heute frage ich mich ständig, aus welchen Motiven sich die unversöhnliche Haltung des Vaters speiste. Ilse fasste den Charakter ihres Gatten öfter treffend zusammen und sagte ihr Mann habe gelebt nach dem Prinzip „mehr Schein als Sein“. Sie selbst vertrat das Gegenteil und versuchte das durch Überzeugungsarbeit kompromisslos durchzusetzen. Das war für die Mitmenschen ihrer näheren Umgebung häufig sehr anstrengend und an den Nerven zehrend, wie ich selbst auch erfahren habe. Beim Ehemann stieß es auf kräftige Ablehnung.
Woher rührten diese festgefahrenen Einstellungen? Sicherlich haben die Prägungen der Kindheit und
nachfolgenden traumatischen Erlebnisse einen starken Einfluss ausgeübt.
Somit wende ich mich den Lebensgeschichten meiner Großeltern zu.
Von Vaters Seite ist uns außer manchen Fotos wenig überliefert. Auch mündlich wurde jedenfalls in
meiner Kindheit von der Familie kaum gesprochen. Der Großvater Christian Drekmann war bereits 1935
gestorben, die Großmutter 1937. Das Foto zeigt beide mit meiner Schwester Gisela, ca. 1930, vor meiner
Geburt.
Unser Vater hatte fünf ältere Brüder. Zweifellos gab es in dem herrschaftlichen Haus eine Reihe von Angestellten und ein Reglement mit Hierarchie und Disziplin, dem sich jeder nach seiner Stellung unter zu ordnen hatte. Patriotisch und kaisertreu war die Einstellung. Über die Rolle der Mutter ist uns wenig bekannt. Einzig mündlich ist der folgende Ausspruch überliefert, den unser Großvater offenbar getan hat, anlässlich der Tatsache, dass zwei seiner sechs Söhne bald nach Kriegsbeginn gefallen sind: „Eine Heldenmutter weint nicht!“ Ein dritter starb danach an den Folgen seines U-Booteinsatzes.
Ich denke, dieser Satz kennzeichnet den Geist, der in der Familie geherrscht hat. Es war der gesteigerte sog. Hurra-Patriotismus der Kaiserzeit. Wie mag die Erziehung der sechs Söhne, insbesondere des jüngsten, von statten gegangen sein? Die gestellten Fotos von 1905 und 1915 bezeugen eher die äußere Fassade, den festen Rahmen, die Uniform und die gediegene Welt der Bürgerlichkeit. Offensichtlich war Richard, dann den Herausforderungen des (zivilen) Lebens nicht gewachsen.
Interessant ist noch, dass in unserem Haushalt ein Bild von Kaiser Wilhelm II. existiert, wobei der Rahmen mit den Farben schwarz-weiß-rot nachgemalt ist. Der Text, sein berühmter Ausspruch vom 4. August 1914, lautet:
Ich kenne keine Parteien mehr, nur noch Deutsche.
Außerdem gibt es verschiedene Geldscheine aus der Zeit der großen Inflation. Einer davon ist versehen mit der Unterschrift des damaligen Vizebürgermeisters von Oberhausen, Christian Drekmann.
Im Gegensatz zu den wenigen Erinnerungsstücken der Familie Drekmann gibt es eine Fülle von Dokumenten der Familie Küster, der Eltern unserer Mutter. Das hat sicherlich ein wenig damit zu tun, dass Ilse das älteste Kind des Ehepaars war und nur noch eine Schwester folgte, während Richard als jüngstem Sohn nur wenig von den Erbstücken übriggeblieben war. Zudem waren die Großeltern Drekmann ca. zehn Jahre älter als das Ehepaar Küster und erreichten nicht deren hohes Alter. Es ist aber vor allem auf die Lebensweise und Einstellung des Großvaters Heinrich Küster zurück zu führen. In seinem langen Leben erreichte er Vieles, was er angestrebt hatte trotz widriger Zeitumstände. Er dokumentierte seine Erlebnisse in reichem Maße und sorgte dafür, dass seine Niederschriften überliefert wurden. So sind uns trotz der Kriegswirren zahlreiche Dokumente erhalten geblieben.
Heinrich Küster wurde 1870 in Hannover geboren, als zweites Kind des Dekorationsmalers Albert Küster und seiner Ehefrau Julie. Der Vater starb früh, die Mutter führte das Geschäft weiter.
Auf einem colorierten Foto sehen wir den jungen Heinrich (in der Mitte), posierend mit dem Bruder Georg und seiner Schwester Marie - ein typisches Bild bürgerlicher Kindheit in der Kaiserzeit.
Heinrich studierte in Hannover Bauwesen und erhielt im Mai 1899 sein Patent als
Regierungsbaumeister „im Namen des Königs“.
Unser Großvater durchlebte beide Weltkriege als Zivilist, und starb 1956 in der DDR in Görlitz.
Ein Eintrag in Wikipedia gibt uns Auskunft über seine beruflichen Leistungen als Baumeister
und Stadtplaner. Allerdings musste ich bei den Angaben einen Fehler feststellen. Wie ich der
Selbstdarstellung entnehme, begann er seine berufliche Tätigkeit direkt in Oberhausen und
nicht in Elberfeld. 1905 bis 1909 war er in Breslau tätig, wo er die heute noch genutzten
Markthallen mit ihrer Stahlbetonkonstruktion entscheidend mit errichtete und neben seiner
Arbeit an der TU Hannover zum Dr. Ing. promovierte. Danach wurde er Stadtbaurat in Görlitz,
eine angesehene Stellung, die er bis 1933 aktiv innehatte. In einer Broschüre zur Geschichte
der Stadt Görlitz aus den achtziger Jahren wird erwähnt, dass er das Stadtbild in den
zwanziger Jahren entscheidend geprägt hat.
Unser Familienarchiv enthält neben der umfangreichen Korrespondenz auch Texte, in denen persönliche Erlebnisse des Ehepaars dargestellt und kommentiert sind. Außerdem gibt es amtliche Dokumente und Informationen etwa zu Reisegenehmigungen und Bescheinigungen in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg, als Deutschland in Besatzungszonen aufgeteilt war.
Besonders wichtig war für die Großeltern Festigung im christlichen Glauben, interpretiert als „Tatchristentum“ und die Überzeugung von der Unverbrüchlichkeit der eigenen Ehe. Für unsere Mutter, die älteste Tochter, war der Vater stets ein leuchtendes Vorbild. Zu ihrer Mutter hatte sie eher ein distanziertes Verhältnis. Auch das hat sie innerlich stark zerrissen. Ein Beispiel dafür ist die Tatsache, dass sie in der Hitlerzeit aus der Kirche ausgetreten ist und nach der Trennung von ihrem Mann wieder eintrat, was sie ihrem Vater als brave Tochter mitteilte.
Die Großeltern traten stets als Ehepaar auf und legten großen Wert auf das Feiern von Familienfesten. All das wurde dokumentiert und aufbewahrt.
Die Trauung 1899 war nach siebenjähriger Verlobungszeit erfolgt, (4 Jahre heimlich und 3 Jahre öffentlich!). Die Details auch der silbernen und der Goldenen Hochzeit wurden von den Eheleuten Küster in einem in einem eigenen Büchlein festgehalten. Und das hat die vielen Jahre unbeschadet überstanden!
Ich habe im Frühsommer 2020 zu Beginn der Coronakrise viel Zeit damit verbracht, die Dokumente einzusehen, die Reiseberichte zu lesen und zu exzerpieren. Das Letztere ist nützlich für spätere Interessenten, etwa die Urenkel, die solche in deutscher Langschrift abgefassten Texte nicht mehr entziffern können. Selbst für mich war es anstrengend, da die Buchstaben der Handschrift zuweilen unleserlich erschienen.
Inhaltlich ist diese Lektüre besonders faszinierend. Ich konnte das Denken und Fühlen der Großeltern in ihren Lebensphasen zum Teil erkennen und rekonstruieren, und das, obwohl ich kaum persönliche Erinnerungen an sie habe. Zwar gab es mehrere Treffen, aber einen persönlichen Bezug konnte ich nicht aufbauen. Das hängt zum Einen mit dem zerrütteten Verhältnis des Großvaters zu seinem Schwiegersohn, meinem Vater, zusammen, zum anderen aber auch mit den Reisebeschränkungen in den Zeiten der Besatzung und der deutschen Teilung , die Besuche in Görlitz für mich unmöglich machten.
In den Schriften von Heinrich Küster finden sich fast keine Äußerungen politischer Art. Ich fand lediglich Bemerkungen der Erleichterung über das Ende des Krieges nach der Kapitulation des Hitlerreiches. „Man kann wieder seine Meinung sagen“, notierte er, und zudem betonte er das „Erschrecken anlässlich der Berichte der Amerikaner über die grauenhaften Zustände in den Konzentrationslagern mit dem Massenmord der Insassen“.
Heinrich Küster war weder im ersten noch im zweiten Weltkrieg beim Militär gewesen. Das war dadurch möglich, dass er sich 1914 aus gesundheitlichen Gründen freistellen lassen konnte, da er 1902 eine sehr schwere Typhuserkrankung erlitten hatte und sichtbare Narben am Körper davontrug. Zu Beginn des zweiten Krieges war er aus Altersgründen schon nicht mehr wehrfähig. Er war nie in eine Partei eingetreten.
Im Gegensatz dazu waren seine Schwiegersöhne ganz auf der Parteilinie der NSDAP, was er am Kriegsende folgendermaßen kommentierte:
Für unsere Kinder ist der völlige Zusammenbruch der Naziregierung ein äußerst schwerer Schlag, weil sie sich die ganzen Jahre seit Hitlers Machtübernahme, also 12 Jahre lang, mit ehrlicher Begeisterung, ja mit Fanatismus für den Nationalsozialismus eingesetzt hatten. Jetzt müssen sie eingestehen, dass wir immer den richtigen Standpunkt dazu eingenommen hatten.
Besonders erschüttert haben mich die Ausführungen in einem Reise-Tagebuch unter den Überschriften „Unsere Flucht aus Görlitz“, „Unser Aufenthalt in Bad Lauterberg“ und „Unsere Heimreise nach Görlitz“ sowie die Schilderungen über das entbehrungsreiche Leben danach. Die Flucht der alten Leute - sie waren 74 bzw. 75 Jahre alt - begann sehr überstürzt, Sie haben sich nicht vorstellen können, dass die Russen bis in ihre Stadt Görlitz vordringen würden, glaubten Anfang 1945 offenbar an einen nahen Friedensschluss und wollten jedenfalls in ihrem Haus bleiben. Als aber dann die Nachricht einer kommenden Räumung der Stadt kam, womit die Fluchtwege immer schwieriger werden würden, entschlossen sie sich, nach Lauterberg zu der Schwester des Großvaters zu fahren und begannen, unmittelbar die Reise zu arrangieren.
Nach 27 Stunden Bahnfahrt in überfüllten Zügen mit häufigem Umsteigen und langen Wartezeiten kamen sie mit acht Teilen Handgepäck schließlich in dem Haus an, in dem ich jetzt so komfortabel wohne. Fast alle Zimmer waren beschlagnahmt und belegt, nur eines vorübergehend frei. So fanden sie ihre erste Bleibe. Hier erlebten sie die 1 ½ Tage andauernden Kampfhandlungen am 13 und 14. April im Walde und fühlten große Erleichterung, dass das Haus kaum beschädigt und auch nicht ausgeplündert worden war.
In der Zeit direkt nach dem Einmarsch der Amerikaner war die Versorgung der Bevölkerung mit dem Nötigsten kaum möglich. Lebensmittel und Brennmaterial waren Mangelware und zusätzlich fiel oft der Strom und das Gas aus. Das Zusammenleben der Verwandten auf engstem Raum wurde zunehmend schwieriger. Es ergaben sich Konflikte der Schwägerinnen beim gemeinsamen Kochen und Heizen, so dass ein Umzug opportun erschien. Daher ergriffen die geflüchteten Großeltern eine Möglichkeit, sich bei einer Familie in demselben Block einzuquartieren, in dem wir wohnten. Eine Nachbarsfamilie hatte ein Zimmer mit Kochgelegenheit angeboten, weil sie einer Einquartierung von ganz Fremden zuvorkommen wollten. Unsere eigene Wohnung war damals völlig überbelegt, weil die Schwester unserer Mutter mit ihren drei Kindern aus Königsberg geflohen und bei uns untergekommen war. In dieser Wohnung, die aus anderthalb Zimmern plus Küche und einer Dachkammer bestand, lebten zu der Zeit zwei Mütter und sechs Kinder!
Als in der Nachbarswohnung der Großeltern bald darauf der Hausherr heimkehrte, wurde ihnen ein Bett entzogen und sie mussten zusammen in einem Bett schlafen. Dieser Missstand führte zu einem weiteren Umzug, wo dann Monate später die gleiche Konstellation auftrat. Das war im August 1945. Die Lebensumstände mit den Erschwernissen und der Mangelernährung hatten mittlerweile dazu geführt, dass die alten Leute auf ca. 50 kg abgemagert waren und sich schwach fühlten.
Ständig hofften sie auf eine Rückreise nach Görlitz, was aber aufgrund des Besatzungssystems mit den festgelegten Zonen vorerst nicht möglich war. So entschlossen sie sich, nach Stade zu Verwandten der Großmutter zu fahren, die eine Konditorei führten und besser ausgestattet waren. Eine Einladung dorthin war zuvor schon ausgesprochen gewesen, aber in der Stadt gab es eine Zuzugssperre, denn statt der üblichen 20.000 Einwohner lebten dort nun 48.000. Sie war voll von Evakuierten, Ausgebombten, Flüchtlingen und Vertriebenen aus dem Osten. Dennoch fuhren die Großeltern dahin.
Weil sie sich jedoch nicht offiziell anmelden konnten, bekamen sie keine Lebensmittelmarken – eine beklagenswerte Situation für mittellose ältere Leute, die immer korrekt zu leben getrachtet hatten und daher auf dem Schwarzen Markt nicht erfolgreich sein konnten. Mit einem verwaltungsmäßigen Trick, der Anmeldung in einem benachbarten kleineren Ort, entspannte sich diese persönliche Belastung etwas. In dem großen Haus der Verwandten wurde derweil für 13 – 15 Personen gekocht. Somit war auch die Mühe der Nahrungsbeschaffung weggefallen und das Senioren-Ehepaar konnte sich etwas erholen. Dabei planten sie weiter ihre Rückkehr nach Görlitz, weil der Großvater in der Heimatstadt auch im sozialistischen Kontext wegen früherer ehrenamtlicher Tätigkeiten, die er evtl. fortsetzen könnte, die Möglichkeit von Nebeneinkünften sah. Das hat sich dann auch bewahrheitet.
Nach sieben Monaten als Flüchtlinge in Stade konnten sie die „Rückführung“ in die alte Heimat zu
beantragen. Wenige Tage darauf erhielten sie den „Marschbefehl“ des Inhalts, sich am 23.3. 1946
sich in einem Lager einzufinden, mit dem Hinweis, dass das Gepäck selbst über die Grenze in die
russische Zone geschafft werden müsse.
Die Rückreise nach Görlitz in die russische Besatzungszone etwa ein Jahr nach dem Ende des Krieges gestaltete sich noch dramatischer als die Flucht zuvor. Sie dauerte 5 Tage und 5 Nächte mit viel Wartezeiten, Umsteigen und drei Entlausungsmaßnahmen, ohne dass die Leute einmal aus ihren Kleidern herauskommen konnten. Ihnen war bewusst, dass sie in ihrem eigenen Haus, das auf der nun polnisch verwalteten Seite lag und zudem ausgeplündert worden war, nicht wieder wohnen konnten. Das war schon sehr schmerzhaft. Dazu kam dann bei der Ankunft am Ort die böse Überraschung, dass sie zunächst in einem Barackenlager eine 15-tägige Quarantäne aushalten mussten. Dort waren 100 Personen in einem Raum untergebracht. Es gab lediglich Stroh zum Liegen und nachts hörten sie die Aktivitäten von Mäusen! Die Maßnahme sei zwecks Beobachtung des Gesundheitszustands notwendig, hatte es geheißen. Erst danach also konnten die Großeltern in ihre Stadt gelangen und mit Hilfe von alten Freunden eine Wohnung finden.
Aus den detaillierten Berichten, die in der Familie aufbewahrt wurden, geht hervor, wie mühselig das Leben der alten und jungen Leute damals war. Der Großvater hat auch notiert, was hier in Lauterberg direkt nach der deutschen Kapitulation allmählich wieder ging bzw. noch nicht erlaubt war:
Am 12. Mai wurde die Verdunkelung aufgehoben; am 15. Mai durfte man wieder in den Wald, aber nur 1 km tief. Es gibt noch keine Post, keine Eisenbahnfahrten; die Ausgangssperre betreffend: ab 5. Juni durfte man sich von 5 Uhr morgens bis 23 Uhr abends wieder auf der Straße aufhalten; weiterhin: am 20. Juni wurde der Postbetrieb wieder aufgenommen, aber nur im Umkreis von 30 km., Ende Juni dann konnte eine Postkarte nach Stade geschrieben werden, kein Brief. Besonders belastend war immer der Mangel an Nachrichten gewesen. Daran erinnere ich mich auch. Man wollte wissen, wie es den Angehörigen geht, und was „von oben“ geplant wurde.
Anfang Juli wurden dann die Besatzungszonen in ihren Grenzen festgelegt. Das Leben in dem von Russen eingenommenen Gebieten war besonders hart. Sehr viele Menschen seien hungers gestorben, erfuhren die Großeltern. Für sie selbst gab es einige Hilfen. Das waren alte Freunde am Ort, zudem kamen dann auch – was existentiell wichtig war – Pakete aus den USA und Westdeutschland. Die Verwandten in New York waren zu einigem Wohlstand gelangt und nun bemühte man sich, den armen Opfern des verlorenen Krieges in Deutschlandverwandten in Deutschland zu helfen. Auch wir bekamen Pakete im Rahmen des CARE-Systems. Zuweilen wurde der Inhalt dann geteilt und in kleinen Portionen weiter versandt – in die „Zone“. Die betreffende Kontoführung meiner Mutter und Großmutter zeigt deutlich die Wertschätzung und Mühseligkeit der Versendung dieser zum Teil lebenserhaltenden Päckchen.
Meine Großeltern Küster haben beide ein hohes Alter erreicht. Sie durchlebten die entscheidenden Phasen der jüngeren deutschen Geschichte, nämlich die Kaiserzeit in ihrer Jugend mit der behaglichen Bürgerlichkeit, die Weimarer Republik mit ihrer Aufbruchstimmung und der persönlichen Aufbauleistung im Beruf, sowie die fehlgeleitete destruktive Hitlerzeit mit dem Vernichtungskrieg nach außen und den Massenmorden im Inneren und schließlich die katastrophale Nachkriegszeit mit dem kalten Krieg und dem Weg in die Teilung Deutschlands in zwei Staaten. Ihr Leben gründete auf einer friedfertigen Einstellung, Standhaftigkeit und auch einigem Glück, wie der Großvater in seinen späten Jahren selbst formulierte.
Von den schweren Zeiten sind kaum Fotos vorhanden. Die erhaltenen Gruppenbilder zeigen die Jubiläen des Ehepaars. Die Silberne Hochzeit wurde 1924 im Riesengebirge gefeiert – mit den Töchtern und Schwiegersöhnen. Zur Goldenen Hochzeit 1949 unternahmen die Großeltern eine Reise nach Westdeutschland, gefeiert wurde zunächst bei den Verwandten in Stade und danach gab es ein Familientreffen in Lauterberg mit den Töchtern und 6 Enkeln. Die Schwiegersöhne fehlten, denn zu meinem Vater gab es keinen Kontakt mehr und der Mann der Tochter Annemarie war 1945 vor Kriegsende verstorben. Ihr neuer Lebenspartner trat bei dem Anlass hier nicht in Erscheinung.
Das Foto von 1949 zeigt uns vor dem Haus in der Oderpromenade. Dort war die aus Königsberg geflüchtete Schwester von Ilse mit ihren Kindern inzwischen eingezogen. Ich stehe ganz links, daneben Tante Annemarie und ihr Sohn. Meine Schwester ist ganz rechts positioniert, daneben unsere Mutter und dahinter unser Bruder. In der vorderen Reihe das Jubelpaar und die Zwillinge, Töchter der Tante.
Soweit zu den überlieferten Notizen und Fotos der Großeltern Küster. Wie erkennbar, hat das Haus hier oft als Angelpunkt für die weitere Familie gedient. Dieser Umstand ist der Schwester unseres Großvaters, Marie Küster, zu verdanken. Sie hatte von Anfang an ein sehr schweres Leben. Auf dem Foto oben steht sie neben ihren beiden Brüdern herausgeputzt mit einem Püppchen in der Hand. Ein späteres Bild aus der Jugendzeit zeigt sie sehr deutlich eingeschnürt in ein Korsett.
Sie hatte von Anfang an weniger Chancen zur Gestaltung ihres eigenen Lebens. Doch gerade auf sie geht die Beziehung unserer gesamten Familie zu Bad Lauterberg zurück. Sie war immer die liebe Tante, die man besuchen konnte, stand aber nie im Vordergrund. Sie hatte ihre Mutter in ihr Haus aufgenommen und diese im Alter bis zu deren Tode 1932 gepflegt. Zum 90. Geburtstag wurde ein Foto erstellt mit dem Ehepaar Küster, die zum Gratulieren angereist waren.
Erhalten ist uns zudem ein Bild von Mutter und Tochter, in dem bürgerlichen Stil der Zeit gekleidet.
Marie Küster wurde in der Familie zum Unterschied zu Heinrichs Ehefrau, die auch Marie hieß, „Mia“ genannt. Sie war lange im Elternhaus in Hannover geblieben und der Mutter behilflich, das Geschäft ihres früh verstorbenen Vaters weiter zu führen. Erst mit vierzig Jahren gelangte sie in den Stand der Ehe. Ihr Mann, der Ingenieur Johannes Janssen, war Witwer und sieben Jahre älter als sie.
Wie die Familiengeschichte überliefert, hatte Joh. Janssen sein Geschäft in Hannover aufgegeben und war nach Lauterberg gezogen, da seine erste Frau an Tuberkulose erkrankt war und man sich in der neuen Umgebung Heilung erhoffte. Sie ist dann jedoch bald verstorben. Er hatte damals, zu Anfang des Jahrhunderts, eine außerhalb des Städtchens stehende Villa im Odertal gekauft.
In dem Haus verbrachte unsere Tante Mia ihre ersten Ehejahre. Das schmucke Gebäude ist in den vierziger Jahren von den Schickert-Werken der Rüstungsindustrie gewissermaßen eingerahmt worden. In den neunziger Jahren wurde die gesamte Bausubstanz des Geländes gesprengt und dem Erdboden gleichgemacht. Heute findet man keine Reste mehr davon. In der Erinnerung vieler Lauterberger ist die Villa völlig getilgt.
Johannes Janssen war begeisterter Radfahrer und als junger Mann beteiligt an der Gründung des Lauterberger Radfahrervereins Wanderlust 1898, wie aus der Chronik zum 100jährigen Bestehen des Vereins hervorgeht. Dort wird er als ehemaliger 1. Fahrtwart und Ehrenmitglied erwähnt. Den Verein gibt es noch heute. Zu jener Zeit veranstaltete man Straßenrennen und Saalfahrten im Lauterberger Schützenhaus und legte zudem besonderen Wert auf Geselligkeit.
Er gewann Preise, einige Pokale sind uns erhalten. Auf einem Zinnbecher von 1901 ist
Janssen noch als Angehöriger des Hannoverschen Clubs eingraviert. Das Bierglas
stammt von 1904
Zur übergroßen Freude des Ehepaares wurde im Dezember 1913 ein Sohn geboren, ein Stammhalter, getauft auf den Namen Rudolf.
Wegen des anstehenden Schulbesuchs des Sohnes erwarb J. Janssen 1914 das hiesige Haus in der Oderpromenade, in dem ich jetzt wohne. Vor kurzem gab es hier noch Reste seiner Fahrradreparaturwerkstatt im Keller.
1933 starb Johannes Janssen, 68jährig, nach einer langen schweren psychischen Krankheit. Er wurde in
Lauterberg begraben, sein Grab ist jedoch nicht mehr vorhanden. Dem Sohn Rudolf ermöglichte die Mutter
eine Ausbildung zum Ingenieur durch die Vermietung von Zimmern an Kurgäste. Da er später
systemrelevant beschäftigt war, wurde er erst zu Ende des Krieges 1945 in die Wehrmacht eingezogen.
Bald darauf fiel er als Soldat in Libau/ Lettland. Lange Zeit war er als „vermisst“ gemeldet – eine unglaublich
schreckliche Situation für die Mutter. Erst spät gab es die Sicherheit über seinen Tod. Erhalten ist uns
lediglich eine Danksagungs-Anzeige in der Zeitung mit Datum vom Januar 1946.
Meine Großtante hatte damals erwogen, mich zu adoptieren, um das Haus als Erbe mir zu übereignen. In den Kriegsjahren hatte ich sie oft besucht, gerne Holz gehackt und in den vorhandenen Büchern gestöbert, ihre langen grauen Jahre gekämmt und beim Wäschewaschen geholfen. Ich erinnere mich noch gut daran und weiß noch, wie ich mich gewundert habe, dass ihre Unterhosen aus festem Stoff waren (kein Trikot) und unten offen. - Wenn man sich die Bekleidung in ihrer Zeit als Ehefrau vergegenwärtigt, ist das wohl sinnvoll gewesen.
Meine Mutter hat mir von dem Plan erzählt, lehnte den Plan aber ab. Sie sagte , das wäre nicht gut für meine Erziehung, die Tante sei zu alt und ich würde verwöhnt. Ich war damals 12 oder 13 Jahre alt. - Nun bin ich doch auf Umwegen dem Wunsch der Tante entsprechend Hausherrin geworden.
Tante Mia starb 1947 nach mehreren Schlaganfällen aus Kummer über den Tod ihres Sohnes. Sie hatte jahrelang mit großer Mühe durch Vermietung von Zimmern an Kurgäste das nötige Geld verdient. Später war Rudolf Janssen in der Rüstungsindustrie beschäftigt und wusste früh, dass der Krieg nicht zu gewinnen war. Das hatte er meiner Schwester anvertraut mit der Auflage, dieses Geheimnis niemals und niemandem zu offenbaren. – Ich habe das auch erst vor kurzem erfahren.
Unsere Tante Mia ist mir im wahrsten Sinne als gütig und hilfsbereit in Erinnerung. Sie hat insgesamt harte Schicksalsschläge erlitten. Neben ihrem Grab auf dem hiesigen Friedhof hat die Familie einen Gedenkstein für den Sohn Rudolf aufgestellt.




















































TEIL III
DAS FAMILIENARCHIV
WIEDERBEGEGNUNG MIT DER HITLERZEIT
In den vergangenen zwei Jahren habe ich mich anlässlich meiner Rückkehr nach Deutschland mit der Geschichte Bad Lauterbergs und meiner Vorfahren ausgiebig beschäftigt. Eine intensive Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit des eigenen Landes hatte sich allerdings schon bedeutend früher angebahnt, und zwar seit 2016. Zu der Zeit arbeitete ich noch in der Türkei an einem didaktischen Schreibprojekt , das den Nutzen des Lateinunterrichts in der Schule betrifft. Ich habe das inzwischen zurückgestellt.
Der Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit der Hitlerzeit ist folgender: In engem Kontakt mit meiner holländischen Freundin Annemieke, die ein Häuschen in meiner damaligen Nachbarschaft besitzt, hatte sich ein Arbeitsfeld besonderer Art ergeben.
Annemieke ist 17 Jahre jünger als ich, dabei auch schon pensioniert. Zu der Zeit hatte sie sich mit den schweren Erlebnissen in Holland in der Zeit der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg beschäftigt. Sie hat ihre Mutter, Tanten und Onkel befragt und einen Text für ihre Nachkommen geschrieben. Er wurde in einer kleinen Auflage im Verlag ihres Mannes gedruckt und in der Familie und im Freundeskreis positiv aufgenommen. In gemeinsamen Gesprächen erwähnte ich, was wir als Deutsche in der gleichen Zeit als Familie durchgemacht hatten. Insbesondere berichtete ich von den dramatischen Kampfhandlungen zum Kriegsende, die uns mit Angst und Schrecken in lebhafter Erinnerung geblieben sind. Noch heute bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich die Situation schildere, wie wir im April 1945 das Ende der Kämpfe im Keller unseres Hauses erlebten, als amerikanische Soldaten mit vorgehaltener Waffe dort eindrangen. In dem kleinen beengten Raum befanden sich zwei Frauen, unsere Mutter und ihre Schwester, und sechs Kinder, davon zwei 16jährige Söhne, meine Schwester und ich, sowie die jüngeren Zwillingstöchter meiner Tante. Die beiden Frauen versuchten noch im letzten Moment die NS-Dokumente ihrer Ehemänner mit einer Petroliumflamme zu vernichten. Meine Erzählung brachte sie auf den Gedanken, nun darüber zu schreiben, was die Menschen auf der anderen, der deutschen Seite im Krieg erlitten hatten.
Annemieke ist die Tochter eines Widerstandskämpfers und in Hass gegen alle Deutschen erzogen worden. Als sie erfuhr, dass unser Vater Berufssoldat gewesen war, und zwar im Rang eines Majors der deutschen Wehrmacht, wurde sie sehr neugierig, und bemühte sich möglichst viel darüber zu erfahren, wie es solch einer Familie in der Nazizeit ergangen ist. Ich verwies Annemieke damals an meine sechs Jahre ältere Schwester Gisela (Jahrgang 1927), die jene 12 Jahre deutlich bewusster erlebt hatte als ich.
Das Kriegsende lag mehr als 70 Jahre zurück – weltweit interessierte man sich für viele Details. Gisela war wie ich sehr offen für jede Auskunft. Meine Tochter Barbara schien geradezu begeistert von dem gemeinsamen Vorhaben, würde sie doch auf diese Weise mehr über ihre Vorfahren erfahren. Und damit nahm ein Projekt seinen Lauf, das bis heute immer noch nicht ganz abgeschlossen zu sein scheint.
Es begann ein Fragen, Befragen Nachfragen. Wie habt ihr als Familie gelebt? Verbunden damit waren die Überlegungen zu den Hintergründen und wichtigsten staatlichen Eingriffen. Was hat eine „normale Familie“ über die Verbrechen der NS-Zeit gewusst, über die Zwangsarbeiter im Lande und die ethnischen Vernichtungsaktionen?
Da unser Vater Offizier der Wehrmacht gewesen war, kam sie auf die Idee, seine Personalakte
aus dem Bundesarchiv in Freiburg anzufordern. Meine Schwester und ich gaben bereitwillig
unsere Einwilligung. Somit wurden wir mit der eigenen Geschichte gewissermaßen von außen
her konfrontiert.
Es wurde ein schwieriges, aufrührendes Unterfangen, denn tatsächlich hatten wir bis dahin recht wenig Konkretes über die Tätigkeiten unseres Vaters gewusst, man sprach darüber nicht, Negatives wurde möglichst verdrängt.
Ich war bei Kriegsende 12 Jahre alt, mein Bruder 16 und meine Schwester 18. Wir Jüngeren haben unseren Vater eigentlich erst ab September 1945 nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft kennen gelernt. Da war er ein abgemagerter, demoralisierter Mann gewesen. Meine Schwester hat als Angehörige der zwanziger Generation nach dem Krieg zweifellos am meisten zu verarbeiten gehabt auf ihrem Weg zum Erwachsensein. Die staatlichen Eingriffe in das persönliche Leben damals sind außerordentlich stark gewesen, sie war inzwischen schon volljährig, Mitglied des Reichsarbeitsdienstes und konnte und musste also über ihre Mitgliedschaften in Kirche und Partei selbständig entscheiden.
Unser Bruder hatte sich schon früh mit einer Hülle zum Abblocken umgeben. Er sollte als Zehnjähriger schon in eine nationalsozialistische Eliteschule übergehen, bestand die Aufnahmeprüfung aber nicht Die Initiative unseres Vaters lief daher ins Leere. Der Junge galt fortan als gescheitert und verhielt sich auch entsprechend. Ich kann mich an keinerlei klärende Gespräche mit ihm über die Nazizeit erinnern. Inzwischen ist er verstorben.
Ich selbst bin nach der Schule und dem Erststudium schnellstmöglich aus Deutschland weg gegangen in dem Gefühl einer zu Recht oder Unrecht verurteilten Nation anzugehören. Ich habe mich nach Finnland orientiert, einem Land das mein Deutschsein nicht generell negativ beurteilte. Seitdem beneide ich die Menschen mit „besseren“ Vaterländern.
Vor nunmehr vier Jahren also begannen die vielen Gespräche über unsere Familie in der Nazizeit. Gisela und Annemieke trafen sich in Bremen und Bad Lauterberg mehrmals im Jahr. Anhand von Fotos und lebhaften Schilderungen vor allem auch in Bezug auf die Rolle unserer Mutter konnte sich unsere Freundin allmählich ein Bild von unserem Familienleben in der Hitlerzeit machen, das sie erzählerisch ausschmückte und mit ihren eigenen Interpretationen ergänzte.
Dazu kamen die brisanten Informationen aus der Personalakte, ein Konvolut aus fast 250 Blättern. Es war schwer zu ordnen und zu verstehen. Zum Lesen brauchte Annemieke z.T. meine Hilfe, da viele Dokumente in deutscher Langschrift verfasst sind. Wir erfuhren viel bis dahin Unbekanntes und konnten die Laufbahn unseres Vaters mit ihren Auf- und Abbewegungen recht gut rekonstruieren: im Januar 1916 war er als Seekadett in die Kaiserliche Marine eingetreten. Knapp 19jährig hat er an der Seeschlacht vor dem Skagerrakt (31. Mai bis 1. Juni 1916) teilgenommen und wurde dafür mit dem Eisernen Kreuz II ausgezeichnet. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges bekam er im Zuge der Verkleinerung der Reichswehr im Oktober 1920 seine Entlassung als Leutnant zur See.
Daran schlossen sich die Jahre als Zivilist an. Er machte eine einjährige Banklehre, arbeitete danach in einem Finanzinstitut und schließlich 1924 bis 1934 bei den Klöckner-Werken in Georgsmarienhütte bei Osnabrück, wo wir drei Kinder zur Welt kamen.
Zu der Zeit hatte er sich schon der neuen Bewegung Hitlers angeschlossen. Die NS-Ideologie sagte ihm offenbar zu und er sah Chancen in der Fortsetzung seiner militärischen Karriere. Er war Mitglied der „SA -Sturm“ und im „Stahlhelm“ und trat 1932 in die NSDAP ein mit der Mitgliedsnummer 1366640. Die meisten Abende verbrachte er außer Haus bei den Kameradschaften.
Damit einher gingen Krisen in der Familie. Das Ehepaar lebte sich auseinander. Unsere Mutter wurde auf die Hausarbeit und die Erziehung der Kinder beschränkt Zudem waren mehrere Umzüge notwendig geworden, da ihr Mann dem Aufstieg in der militärischen Karriereleiter absoluten Vorrang einräumte und den Arbeitsort wechselte. Die Personalakte ist voll von den zahlreichen Bemühungen zur Vorbereitung einer Reaktivierung als Offizier. Hitlers Pläne zur Aufrüstung der Wehrmacht boten entsprechend gute Chancen.
1934 trat er in den Freiwilligen Arbeitsdienst ein.
Danach ging er in den Dienst des Reichsluftschutzbundes und war von 1935 bis 1937 beim Flugwachkommando
Hamburg eingesetzt, das Görings Reichsluftfahrtsministerium unterstand (gegr.1933). Eine Bewerbung als
„Ergänzungsoffizier“ war zunächst abgelehnt worden. Doch nach zahlreichen Übungen (Febr. 1936 – Dez 1938)
zum Zwecke des Eintritts in die neue Wehrmacht konnte er aufsteigen in die Ränge des Oberleutnants
(25.Sept. 1935) und des Hauptmanns der Reserve (1.Jan.1936). Er bewarb sich dann um die Verwendung
bei der Flak (Flugabwehrkanone) – mit Erfolg.
Dem Gesuch waren zahlreiche Anlagen beizufügen. Zu nennen sind hier besonders:
-
der Ariernachweis mit den Taufdaten der eigenen Eltern und Großeltern, ebenso wie den entsprechenden Daten der Ehepartnerin.
-
Erklärungen zur Gesinnung und Parteizugehörigkeit
-
Auskunft über die häuslichen Verhältnisse, Familie, Schulden etc.
Hervorzuheben ist auch die Dokumentation der Vereidigung von 1936. Da heißt es:
„Ich habe am heutigen Tage, den 11. Februar 1936 folgenden Eid auf den Führer geleistet:
Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid, dass ich dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, dem Obersten Befehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam leisten und als tapferer Soldat bereit sein will, jederzeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen.“
Ich melde hiermit, dass für mich der Eid als heilige Verpflichtung gilt.
Mit dem „Ausbruch“ des Krieges 1939 im September war unseres Vaters Stellung als Offizier gewissermaßen gesichert. Er war bereits ab 1.Juli des Jahres als Hauptmann im aktiven Dienst und wurde am 1.7.1940 zum Major befördert.
Doch danach folgte ein eklatanter Karriereeinbruch. Im Februar 1942 ist er von einem Feldgericht zu sieben Monaten Gefängnis und Rangverlust verurteilt worden! Die Familie hatte das mit zu tragen. Zunächst hatte es für ihn ungewöhnlich lange Urlaub gegeben. Zuhause erschien er in Zivil. Die stolze Uniform und das entsprechende Einkommen waren im Dunkel verschwunden. Das „Warum“ war uns unbekannt, auch unsere Mutter wusste es offenbar nicht. Sie war lediglich bemüht, diese „Schande“ vor der sozialen Umgebung möglichst geheim zu halten. Später habe ich einmal nachgefragt. Er habe derzeit als Kommandeur einer Flak-Einheit zum Vorteil für seine Kameraden falsche Angaben über Abschüsse bei der Fliegerabwehr gemeldet, sagte er. – Aus der Personalakte geht jedoch Anderes hervor.
Nach Verbüßung der Gefängnisstrafe meldete er sich an die Ostfront, was für eine Bewährungszeit
förderlich erschien. Nachweislich der Personalakte wurde er wieder befördert, und zwar vom Kanonier
zum Gefreiten am 1.8. 1943, dann zum Unteroffizier am 1.10. desselben Jahres und zwölf Monate
später am 1.10. 1944 zum Wachtmeister. Danach reichte er ein Gnadengesuch zwecks
Wiedereinsetzung in den früheren Offiziersrang ein. Dem wurde stattgegeben „wegen besonderer
Bewährung im Feineinsatz und guter Führung“. Das Dokument vom 12.12.1944 ordnet seine
Versetzung in einen Stab an. Dabei wird eine Löschung im Strafregister als „noch verfrüht“ bezeichnet.
Somit hatte unser Vater, als der Krieg schon nahezu verloren war, seine Rehabilitation erreicht. Es war die „Wiederherstellung seiner persönlichen Ehre“, wie er es nannte. In einem Brief vom 12. Dezember 1944 an seine Frau bittet er um die sorgfältige Pflege seiner Uniform mit einer Aufzählung aller Einzelteile, z.B. auch die Tennisausrüstung und die weiße Uniform mitsamt Mützenschachteln.
Da der Rangverlust und seine Folgen, sogar rückwirkend zum 1. Oktober 1944, aufgehoben worden war, konnte er nach Gründung der Bundeswehr in den fünfziger Jahren auf Versorgungsbezüge hoffen – und er bekam sie als ehemaliger Major.
Wenn ich heute Freunden gegenüber den Rangverlust unseres Vaters erwähne, denken sie sofort an Widerstand gegen das Regime als Auslöser. Das war jedoch nicht gegeben. Die Akte weist den Grund für die Verurteilung aus: es war U n g e h o r s a m verbunden mit persönlicher Machtausübung in Form von Druck auf Untergebene, was das harte Feldgerichtsurteil mit Gefängnis und Rangverlust bewirkt hatte. Der Offizier Richard Drekmann war u.a. mit einem Auto zum privaten Amüsement nach Holland gefahren, obwohl die Benutzung des Dienstwagens wegen zu starken Benzinverbrauchs untersagt gewesen war. Zusätzlich hat er den Fahrer zu falschen Angaben genötigt – und unberechtigterweise befördert!
Diese Umstände sind heutzutage nicht einfach zu verstehen. Ich denke, solche Vorgänge konnten stattfinden, weil das große Tuch des Schweigens auf allem Geschehen ausgebreitet war. Wir hatten Krieg, und in solchen Zeiten fragt man nicht viel. Nun hat uns Annemieke durch ihre Initiative 75 Jahre nach der totalen Kapitulation Deutschlands einen Einblick verschafft – und der ist verblüffend. Wie kann man die Vorgänge im damaligen Zeitgeschehen verorten?
Einem Feldpostbrief aus dem „Osten“ lag das nebenstehende Bild von Adolf Hitler bei.
Die Aussage: „das Leben (wird) den Starken gegeben, die gewillt sind, ihr Leben, ihre Ehre vor der Welt zu vertreten“.
Unser Vater hatte Schwäche gezeigt. Daher seine „persönliche Ehre“ verloren – und nach Bewährung wiedergewonnen. Die Schlüsseltugend G e h o r s a m hatte er verletzt und war mit besonderer Härte dafür bestraft worden, um den unbedingten Gehorsam, den er im Eid geschworen, hatte durchzusetzen. Dafür verzichtete man auf die fachliche Kompetenz eines Berufsoffiziers während des Krieges nahezu drei Jahre lang.
Ich denke, diese Einstellungen prägten den Charakters unseres Vaters und vieler anderer – auch im Zusammenhang mit der Nachkriegszeit, als das „Dritte Reich“ völlig untergegangen war und mit ihm das perverse Verständnis von Ruhm und Ehre der Nation.
Von Annemieke kam noch ein zweiter Anstoß für mich zur Wiederbegegnung mit der Hitlerzeit. Dieser betrifft in
einem weiteren Kontext und einen anderen Blickwinkel. Sie hatte sich ja im Gegensatz zu mir jahrelang mit den
deutschen Verbrechen der Nazidiktatur beschäftigt, immer geführt von dem Gedanken, was hat die deutsche
Bevölkerung davon gewusst habe. Die Arbeit an ihrem Buch über unsere Familie ging ihrem Ende zu. Im
Februar 2019 überreichte sie mir ein fast noch druckfrisches Exemplar mit 177 Seiten – wie ihr erstes
Schreibprojekt in einer kleinen Auflage veröffentlicht. Der holländische Titel: „OVER GRENZEN - OPGROEIEN
onder het juk van Hitlers naziregime“ (zu Deutsch: Über Grenzen, aufgewachsen unter dem Joch von
Hitlers Naziregime) Auf dem Einband sieht man meine Schwester und mich in Lauterberg in den fünfziger Jahren.
Der zweite Anstoß war in dem Buch auch verarbeitet. Es ging um Folgendes:
Im September 2018, als ich noch mit der Eingewöhnung in meinem neuen Wohnsitz beschäftigt war, hatte sie bei einem Besuch meiner Schwester und mir den Vorschlag gemacht, gemeinsam die KZ-Gedenkstätte DORA-MITTELBAU bei Nordhausen zu besuchen. Meine Schwester Gisela lehnte das Vorhaben rundweg ab. Damals in ihrer Schulzeit in Nordhausen hatte sie Gruppen von Zwangsarbeitern in ihrer Sträflingskleidung entlang der Bahngleise zur Arbeit im Stollen gehen sehen und wollte diese belastenden Eindrücke in ihrem hohen Alter nicht wiederbeleben. Ich sagte zu, kaum ahnend, was dieses Unternehmen für mich persönlich bedeuten würde. Eine besondere Art der Konfrontation mit den Verbrechen der Nazizeit und der deutschen Geschichte allgemein hat mich dabei erfasst und nun, fast zwei Jahre später, immer noch im Griff - zumal in der BRD die politische Rechte so stark geworden ist.
Woran hatte der Besuch der Gedenkstätte gerührt?
Annemieke hatte mich beobachtet und wunderte sich gleich doppelt, einmal über mein mangelndes Vorwissen und zum anderen, dass ich beim Betrachten der Dokumente der Verbrechen in den Kriegsjahren ihrer Meinung nach keine heftigen emotionalen Reaktionen gezeigt habe. Sie hat natürlich Recht, ich scheue immer noch davor zurück, mir die Gräuel konkret vorzustellen. Sechs Millionen Leben wurden wissentlich und zum Teil willentlich vernichtet. Das ist eine allgemeine Aussage, im Einzelnen unvorstellbar - oder? Die Täter waren unsere uniformierten Landleute von damals, nahe Verwandte wie unsere Väter und Onkel, die wir respektiert hatten. Wenn es zum Patriotismus gehört, stolz auf sein „Vaterland“ zu sein, so müssen wir als Deutsche dieses Gefühl wohlausklammern. Wie kann das gelingen im Konzert mit anderen Nationen? „Verfassungspatriotismus“ gilt als neues Angebot, allerdings ist der emotionale Anteil dabei deutlich geringer und viel weniger konkret zu handhaben.
Meine weiteren Überlegungen bezüglich unseres gemeinsamen Besuchs der Gedenkstätte führen zu der Erkenntnis, dass natürlich die Menschen außerhalb Deutschlands durch ihr Nicht-Betroffensein und ohne die Last der kollektiven Schuld ein direkteres Interesse an den Vorgängen von damals haben. Sie können sich ebenso wie unsere Kinder und Kindeskinder, die in einer Atmosphäre mit dem Recht der freien Meinungsäußerung leben, nicht vorstellen, wie man zu jener Zeit zivil lebte.
Wieso konnte oder wollte ein erheblicher Teil der deutschen Bevölkerung nichts von den Verbrechen wissen? Auf diese Frage gibt es meines Erachtens keine allgemeingültige und einfache Antwort. Daher haben sich die verschiedenen Einstellungen bis heute fortgesetzt.
Ich habe die Zeit als Kind erlebt, der Ausnahmezustand war das Normale, ebenso wie die Lebensmittelrationalisierung und der Fliegeralarm statt des Schulunterrichts. Wenn der Krieg vorüber ist, wird alles besser sein, sagte man zur Beruhigung. Und so klang es aus dem Radio, dem Kino, der Zeitung und der Wochenschau. In dem Bewusstsein lebte man und hoffte auf die angesagte Wunderwaffe - bis die Flüchtlinge und Vertriebenen kamen und die bedingungslose Kapitulation Realität wurde. Zuvor hatte man nur aus Angst vor Kontrollen „von oben“ geschwiegen und in der letzten Zeit um sein Leben gebangt.
Ich bin Jahrgang 1933. Im Frühjahr 1945 lagen sechs Jahre frühe Kindheit und sechs Jahre Schulzeit im Krieg mit allgegenwärtiger Indoktrination hinter mir. Einen gute Eindruck davon kann man beim Betrachten der damaligen Fibel mit ihren Texten und Bildern bekommen, die ich schön fand und geliebt habe.
In meinem Kopf befinden sich gegenwärtig auch noch viele Sprüche und Lieder, deren Inhalte und Melodien bei mir positiv besetzt sind, aber heute als „unpassend“ bewusst unterdrückt werden müssen. Daher werde ich seltsam berührt, wenn die Neue Rechte ähnliche gemeinschaftsstiftende „Kulturgüter“ pflegt, die von mir rational abzulehnen sind.
Was das historische Wissen und die Ereignisse in der Hitlerzeit betrifft, so kann es in meinem Bildungsverlauf nur Lücken geben. Denn meine Schulzeit in der Sekundarstufe bis 1950 in der frühen Nachkriegszeit war geprägt durch mangelnde Orientierung. Die wenigen vorhandenen Lehrkräfte griffen auf alte unverfängliche Inhalte zurück, etwa die deutsche Klassik oder die Antike. Ich kann mich jedenfalls an keinerlei Geschichtsunterricht erinnern!
Und später in den Jahrzehnten danach? Es waren Berichte der ehemaligen Feinde erschienen. Für die Elterngeneration galt Scham und betretenes Schweigen. Man zog sich ins Privatleben zurück und kümmerte sich um den Wiederaufbau des Landes. Sehr bald war dann die Teilung Deutschlands eine Realität und die Abwehr des Kommunismus im Westen federführend. So konnte sich das „Beschweigen“ fortsetzen.
Jüngere Generationen bekamen dann das Wissen aufbereitet und kommentiert in ihrem Lehrplan geboten.
Auf lokaler Ebene lässt sich der Umgang mit der Hitlerzeit für Bad Lauterberg augenfällig nachvollziehen. Die Stadtchronik von 1983 zum 800-jährigen Bestehen des Ortes enthält keinen Text zu den 12 Jahren des Dritten Reiches. Erst 2008, 25 Jahre später, erscheint ein einschlägiges Kapitel mit Bebilderung.
Etwa zu der Zeit ist auch eine Dokumentation über die Arbeiter in der Rüstungsindustrie Lauterbergs erstellt worden mit dem Titel „Arbeiten für Groß-Deutschland – Zwangsarbeit in Bad Lauterberg“.
Eine gründlichere Aufarbeitung der Nazizeit konnte in der Region um Bad Lauterberg aus politischen Gründen erst nach der Wiedervereinigung mit den ehemaligen DDR-Nachbarprovinzen einsetzen. Anfang des neuen Jahrhunderts hat dann die Gedenkstätte MITTELBAU DORA bei Nordhausen in Thüringen ihre jetzige Form mit einem Lern- und Dokumentationszentrum bekommen.
Mein Verdrängungsinstinkt und daraus resultierendes Verhalten weicht also kaum von dem allgemeinen Trend in der deutschen Bevölkerung ab. Während meines Berufslebens in Gießen 1970 – 95 hatte ich mich gegen die virulente Fremdenfeindlichkeit der alten Bundesrepublik aktiv eingebracht, was mir damals näher lag.
Ich denke, dass es für mich und meinen Jahrgang, der in der Hitlerzeit seine Kindheit und Jugend verbracht hat, schwer ist, diese Periode unserer nationalen Geschichte pauschal völlig abzuurteilen. Unsere Eltern haben uns umsorgt und geliebt. Wir haben ihre Erziehung genossen, bei aller Kritik auch ihre Werte übernommen., haben ihre Mühen und Plagen kennengelernt, gemeinsam gelitten. Wir wurden durch sie geprägt, so wie sie selbst durch die Werte der früheren Perioden, des Kaiserreichs und der Weimarer Republik geprägt worden sind.
Nachdem wir von den ungeheuren Verbrechen der Staatsgewalt erfahren haben, mochten wir es nicht glauben und schon gar nicht den eigenen Eltern anlasten. Wussten sie es überhaupt? Wenn ja, wieviel wussten sie? Schließlich hatte die Geheimhaltung Priorität und allgemein hieß es sowieso: „Vorsicht bei Gesprächen – Feind hört mit!“
Im Nachhinein ist dieses wiederum kaum glaubhaft für Menschen von heute in der offenen Informationsgesellschaft, und natürlich besonders für Angehörige anderer Nationen. Den nötigen Abstand, um sich sachlich mit dem damaligen Geschehen auseinanderzusetzen können wohl erst die Nachkommen der dritten Generation haben. Die Notwendigkeit scheint dringlich gegeben, da die politische Rechte an Zuspruch gewinnt und eine Neigung zu Gewalt erkennbar ist, die sich gegen Fremde richtet.
Eine Frage von Annemieke ist bis jetzt offengeblieben. Sie wollte wissen, wie wir geworden wären, wenn wir nicht in der Hitlerzeit mit dem Krieg groß geworden wären. Für mich ist diese Frage unbeantwortbar. Es war eben so – und nicht anders. Meine Schwester Gisela (Jg.1927) hat hingegen viele verschiedene Zeitumstände erlebt und persönliche Brüche erfahren. Zum Beispiel ist sie 1942 aus der Kirche ausgetreten und 16 Jahre später (1958) wieder Mitglied geworden. Auch möchte sie ihr positives Bild von dem Vater ihrer Kinderzeit nicht völlig aufgeben.
















SCHLUSS
Es ist Herbst 2020. Meine zweijährige Eingewöhnungsphase war im Frühjahr vorbei – und dann kam das Covid 19 Virus. Jetzt fiebere ich in Bad Lauterberg im Takt der Welt-Corona-Krise mit. Schon sind meine Reflexionen vom Jahreswechsel 2019/20 Vergangenheit. Sie gehören in die Vor-Corona-Zeit.
Alles dreht sich in erhöhter Geschwindigkeit. Wie hieß es doch bei Wilhelm Busch in seiner
Bildergeschichte von Julchen 1877: „Eins zwei drei im Sauseschritt läuft die Zeit, wir laufen mit!“
Das bezog sich auf das Heranwachsen des Kindes in einer gemächlichen historischen Zeit.
Hier und jetzt hat sich dagegen alles abrupt verändert. Mich betrifft insbesondere das Label
Risikogruppe, deren Mitglieder durch Isolation geschützt werden sollen vor einer gefährlichen
Krankheit mit dem Ergebnis, dass ich (fast) keinen Besuch bekomme, was ich sehr, sehr
bedaure. Hat man so etwas erwarten können als ich meinen Umzug hierher in Angriff nahm?
Keinesfalls. Die Coronakrise ist übergreifend, weltumspannend. Ein Neustart ist nun für die
gesamte Menschheit angesagt. Die allgegenwärtige Gesichtsmaske ist das äußere Zeichen
der Veränderung – hier meine selbst gebastelte Version.
Vor zweieinhalb Jahren bin ich nach Deutschland eingereist, zunächst tastend, neugierig habe ich mich umgeschaut in der neuen Umgebung und versucht, mich an manchen Stellen einzubringen. Jetzt scheint es, gehöre ich zum Stadtbild. Ebenso sind viele Ortsansässige mir zu „Bekannten“ geworden. Man grüßt sich und tauscht Alltagssorgen miteinander aus. Das Erleben ist ein Gemeinsames geworden vor allem seit die Pandemie über uns hereingebrochen ist und lokal verwaltet wird.
Interessanterweise erinnert mich das Geschehen an die Situation in meiner Kindheit als der Krieg über uns „hereingebrochen“ war verbunden mit der Angst um Leben und Tod. Auch damals wurde Solidarität im Inneren des Landes verlangt. Es gab diverse Einschränkungen - so etwa beim Reisen - und Vorschriften – so etwa die Verdunkelung der Fenster. Außerdem Alarmstufen und entsprechende Anordnungen „von Oben“. Dazwischen liegen 81 Jahre! Der Spruch „Was machen die mit uns“ erinnert mich an die Diktatur von damals, wobei ich die grundlegenden Unterschiede im politischen System und den Handlungsimperativen keinesfalls nivellieren möchte. Dennoch gibt es die Parallelen: Man verfolgt täglich das Geschehen an der Front. Neueste Nachrichten werden wichtig. Wie sind die Zahlen der Erkrankten, der Todesfälle? Man hofft auf Entwicklungen in der Medizin zur Besserung der Lage (Stichwort Impfstoff). Eine extrem große Rolle spielen dabei heutzutage die versorgen - digitalen Medien, die ums ständig mit Nachrichten versorgen.
Die Unsicherheiten für die Wirtschaft bleiben vorerst bestehen. Die Staaten schreiten ein, bieten Hilfen. Und so lässt sich ein seltsames Gemisch aus Aktionismus verbunden mit Pessimismus beobachten. Dazu kommt ein Gegenüber der Jungen und der Alten. Denn Letztere bangen meist nicht um ihre regelmäßigen Einkünfte so wie die Jüngeren. Die Senioren sind hingegen psychisch besonders hart von den Distanzgeboten betroffen. Und für mich, eine Person mit Hörproblemen, ist das allgemeine Tragen von Gesichtsmasken eine doppelte Belastung. Zudem fehlt mir der Besuch von Freunden und Verwandten aus der Ferne!
Andererseits kann ich von Glück sagen, dass ich in einem Kurort lebe, wo es die Möglichkeit gibt, ohne „Mund- und Nasenschutz“ andere Menschen in der frischen Luft des Kurparks für eine small talk zu treffen. Seit den Lockerungen nach Ostern nach den dramatischen Schließungen aller Einrichtungen (Lockdown)gibt es auch wieder Kurgäste. Interessant ist, dass vor allem infolge der Lahmlegung des Flugverkehrs viele Menschen wieder Urlaub in der Heimat machen, was dem Städtchen hier zum Vorteil gereicht.
Der letzte Teil meiner Rückkehr-Phase ist also geprägt durch die Pandemie, das Leben mit Corona. Somit ist meine Sesshaftigkeit durchaus konform mit den Herausforderungen der Zeit.
Hier noch einige Bemerkungen aus der Vor-Coronazeit, die nun als verlorene Normalität bezeichnet wird. Man möchte sie unbedingt zurückholen, erkennt aber mittlerweile, dass das nicht so einfach funktionieren wird.
Meine Rückkehr aus einem fernen Land an den Ort meiner Kindheit nach nahezu 70 Jahren in fortgeschrittenem Alter kann sicherlich als ein Kontrastprogramm bezeichnet werden. Viele neue Eindrücke stürzten auf mich ein und ich bemühe mich, sie in meinem Kopf zu ordnen, um sie handhabbar und darstellbar zu machen. Aber es gelingt nicht. Kein Schema passt. Auch keine zweidimensionale Grafik würde all die wesentlichen Vergleichspunkte erfassen können, die sich mir im Rückblick auf die Türkei aufdrängen.
Dabei finde ich es sehr überraschend, dass die meisten Menschen in meiner jetzigen Umgebung sich zwar wundern, wenn ich sage, woher ich gerade komme, aber keine weiteren Fragen stellen. Sie sind offenbar vollends mit den Geschehnissen ihrer Region beschäftigt.
Werkzeug und Hilfe für meine Integration waren und sind zweifellos die Medien. Zunächst kaufte ich täglich eine Zeitung – die Süddeutsche. Es war faszinierend, die Themen der Zeit aus dem deutschen Blickwinkel ausführlich kennen zu lernen. Doch bald wurde es quantitativ zu viel zum Lesen. Nach ein paar Wochen entschloss ich mich, nur noch die Wochenendausgabe regelmäßig zu besorgen und dazu den SPIEGEL. Dabei ist es bis heute geblieben.
Um die Informationsflut zu meistern gibt es die digitalen Geräte. Aufgrund der Wünsche meiner Kinder schaffte ich mir bei der Rückkehr (endlich) ein Smartphone an und musste den Umgang damit mühselig lernen. Inzwischen habe ich einige Funktionen im Griff! Mit dem Computer war ich schon jahrzehntelang vertraut. Das Internet hatte mir seit meiner Pensionierung 1995 ermöglicht, meine wissenschaftlichen Aktivitäten und die eigene Verwaltung aus der Ferne zu meistern.
Hier sei noch bemerkt, was mich in der letzten Zeit meines Türkeiaufenthaltes sehr heftig gestört hat. Es ist die Tatsache, dass dort jahrelang der Zugang zu WIKIPAEDIA gesperrt war – oder noch ist. Ein beredtes Zeichen für die Einschränkung der Meinungsfreiheit der jetzigen Regierung.
Viele Unterschiede zwischen meinem bisherigen und jetzigen Wohnort sind grundlegender Art, bedingt durch die verschiedene geografische Lage und die historischen Entwicklungen der Länder. An erster Stelle rangiert vor allem das Wetter, das die Türkei zu einem beliebten Urlaubsort für Deutsche gemacht hat. Ähnlich relevant ist aber auch die Differenz in der industriellen Entwicklung mit ihren Auswirkungen auf den allgemeinen Wohlstand. Mir sagte einmal ein Student in Ankara im Zuge eines Gesprächskreises, als ich von meiner Kindheit in Deutschland berichtete, - nun verstehe er, weshalb ich gerne in der Türkei lebte: weil es mich an meine Kindheit erinnere. – Er hatte nicht Unrecht!
Die Arbeitsleistung und wirtschaftliche Prosperität der Bundesrepublik ist unübersehbar. Sie führte zu einem breit gestreuten Wohlstand und Selbstverständnis, das man in seinen Auswüchsen auch kritisch sehen kann. Ich erwähne hier die massenhaften Urlaubsreisen der arbeitenden Bevölkerung und der finanziell gut ausgerüsteten Ruheständler. (Stichwort Kreuzfahrten). Weiterhin muss man m.E. die Selbstverständlichkeit des privaten Autobesitzes erwähnen – verbunden mit einer hochgradigen Verkehrsdichte. Die besonderen Größen der PKWs sowie die erstklassigen Ausstattungen betreffen mittlerweile auch die Fahrräder. Es gibt eine Zunahme der E-bikes, die Mountain-Bikes für Kinder sind allgegenwärtig ebenso wie die Laufräder für die Kleinsten. Wenn ich auf dem Balkon sitze, fällt mir bei den Spaziergängern der Partner-Look ins Auge und außerdem die große Anzahl von Hunden, die sogar in den Hotels willkommen geheißen werden. So etwas ist in der Türkei m.E. kaum denkbar.
Die Marketing Organisation des Harz-Gebirges betont den Charakter des Erlebnis-Urlaubs. Offenbar gibt es einen Bedarf dafür, wenn das normale Leben als eintönig geregelt erscheint. Zu erwähnen an dieser Stelle ist noch der Trend zur Selbstoptimierung, bezogen auf das Aussehen mit Tätowierungen und ausgefallenen Frisuren. - Soweit meine kritischen Beobachtungen als Neuankömmling in einem Kurort einer entlegenen Provinz.
Positiv sehe ich, dass es hierzulande starke Ansätze zur Eindämmung des Klimawandels, was sich vor Ort auch als Impuls für die Kultur des Wanderns zeigt. Durch die Corona -Einschränkungen wurde der Trend nochmal verstärkt. In dem Begriff des ökologischen Fußabdrucks ist das Thema meines Erachtens sehr gut zusammengefasst. Ansätze zum Umdenken bekommen mehr Gewicht und werden von der Jugend verstärkt eingefordert.
Im Zusammenhang mit meiner täglichen Lektüre stieß ich unlängst auf das Buch von Maja Göpel
„Unsere Welt neu denken“, das direkt vor der Verbreitung des Covid 19 Virus entstanden ist.
Die Autorin beleuchtet die Zusammenhänge von vielen Seiten, erklärt sie und propagiert
Neuansätze. Ich habe dieses Buch den Enkeln weitergeleitet, denn in deren Händen und
Köpfen wird die Zukunft liegen.
Ein großer Unterschied zu dem Leben, Denken und Fühlen in der Türkei liegt in der sehr unterschiedlichen Geschichte der beiden Länder. Das betrifft das sehr langlebige Osmanische Reich auf der einen Seite und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation mit dem nachfolgenden Deutschen Reich auf der anderen, aber ganz deutlich auch die Periode der Republiken bis heute. Ein direkter Vergleich, bezogen auf die zurückliegenden Zeitabschnitte und entsprechenden Hoheitsgebieten macht das konkret fassbar, denn die Republik Türkei wird in drei Jahren ihr 100jähriges Bestehen feiern – in den Grenzen die 1923 festgelegt wurden.
Die Geschichte Deutschlands hingegen ist sogar während meines eigenen Daseins stark fragmentiert. Ich erlebte vier aufeinander folgende Phasen mit unterschiedlicher Dauer und verschiedenen politischen Systemen und Grenzen:
1. Das Hitlerreich, 12 Jahre lang, 1933-1945. Eine Karte in unserem
Familienarchiv vom März 1938 zeigt die höchste Ausdehnung mit
dem Anschluss Österreichs.
2. Die Besatzungszeit mit der Zoneneinteilung der Siegermächte des zweiten Weltkrieges, 1945-1949. Sie währte vier Jahre lang. Die Karte enthält schon die neuen Grenzen von Deutschland.
3. Die Zeit des Kalten Krieges mit den zwei deutschen Staaten und der Teilung Berlins, ab 1948/49.
Sie währte 40 Jahre und kam mit dem Ende der UDSSR zum Abschluss.
4. Die vereinigte Bundesrepublik mit den nunmehr endgültigen Grenzen ohne die ehemals östlichen Gebiete, also ohne einen beträchtlichen Teil des ehemaligen Territoriums. (Die Oder-Neiße Linie im Osten teilt dauerhaft Görlitz, die Heimatstadt meiner Mutter.)
Auf die Frage, wie alt unser jetziger Staat ist, muss man antworten: dreißig Jahre, nur eine Generation. So nimmt es nicht Wunder, dass die Lebenserfahrungen der Deutschen in West und Ost nach der längeren Zeit der Teilung (40 Jahre) recht unterschiedlich sind. Hier in Bad Lauterberg, im Dreiländereck Südniedersachsens mit den benachbarten Bundesländern Sachsen-Anhalt und Thüringen gibt es natürlich Zuzüge. Dazu gehören meine direkten Nachbarn, die einen Großteil ihrer Verwandten dort in den „Neuen Bundesländern“ haben und regen Kontakt pflegen.
So wie bei meiner mittlerweile aussterbenden Generation die Erinnerungen an die Zeit ihrer Kindheit noch wach sind, werden bei den Westlern und Ostlern die verschiedenen systembedingten Erziehungspraktiken mit ihren spezifischen Zielen noch lange Zeit nicht miteinander verschmolzen sein! So wie ich haben sie sicher noch die Hymnen und Lieder ihrer Jugendzeit im Kopf und Gemüt und müssen sich bremsen, diese nicht auf die Zunge kommen zu lassen.
Und wie steht es mit den Fahnen, den staatlichen Symbolen? Hier in Deutschland sehe ich keinesfalls das Flattern von Schwarz-Rot-Gold am gegenwärtigen National-Feiertag im öffentlichen Raum. - Man vergleiche etwa die Situation mit der Türkei, den USA oder Großbritannien, wo ein Fahnenmeer einen solchen Tag schmückt.
Die Bundesrepublik Deutschland ist also sehr jung, 1949 im Westen entwickelt und als demokratisches System nachträglich in den „Beitrittsgebieten“ übernommen worden. Die Unterschiede machen sich auch sprachlich fest, wenn man im Osten von der „Wende“ und im Westen von der „Wiedervereinigung“ spricht.
Ich habe die Teilung, das Auseinanderdriften der drei westlichen von der östlichen Zone als Heranwachsende bewusst erlebt. Als ich in Gießen an der Universität 1989 den Studenten die große positive Bedeutung des Mauerfalls und des Zusammenbruchs der DDR klar machen wollte, reagierten sie sehr zurückhaltend und sagten: “Mit London und Paris fühlen wir uns mehr verbunden als etwa mit Magdeburg oder Leipzig“. Das ist beklagenswert, aber verständlich, da es jahrzehntelang keine Möglichkeit gab, ohne Sondererlaubnis unbeschwert in das Territorium der DDR zu reisen. Somit gibt es bei den Westdeutschen bis heute wenig Kenntnisse über die östlichen Bundesländer bei den Westdeutschen. Die Einheit kam überraschend vor eben gerade mal 30 Jahren.
Eine gleichartige Situation spiegelt sich auf der europäischen Ebene wider. Die Gründung der EU war unsere große Hoffnung nach der katastrophalen Zeit des Hitlerregimes. Aber sie konnte bis vor 30 Jahren nur nach Westen orientiert realisiert werden.
Anzumerken ist in dem Zusammenhang, dass es jetzt in der Zeit der Corona-Krise zum ersten Mal Erfahrungen gibt, die West und Ost gemeinsam betreffen. Sie gelten sogar weltweit.
Fazit: Für einen unbeschwerten Patriotismus mit einem Fahnenmeer scheint Deutschland kein geeigneter Boden zu sein.
Vielleicht ist das ja auch überholt.
ENDE des Berichts: 3. Oktober 2020
A N G E K O M M E N
in Bad Lauterberg
Die Webseite wurde gestaltet von meinem Enkel Jesse Schwenk.
Bildquellen sind u.a. aus Wikipedia und gängigen Handbüchern.








