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Gedanken zur Jahreswende

2019/2020

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Die Stimmung in Deutschland scheint mir eher trübe als hell zu sein. Es herrscht ein „Gefühl diffuser existenzieller Unsicherheit“, wie Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung (28./29.12. 2019) schreibt. Der digitale Aufbruch sowie das neue politische Spektrum, beides erscheint nicht vorwiegend positiv vor unseren Augen. Ganz konkret wird die nunmehr schon vier Jahre andauernde Mühe um den BREXIT, den Austritt Großbritanniens aus der EU, als Dilemma wahrgenommen. Und man fragt sich, ob die Europäische Union auf eine gute Zukunft vorbereitet ist.

Manche englischen Freunde freuen sich über die gegenwärtigen Fortschritte im Scheidungsprozess von Europa. Die nationale Selbstbestimmung als Ziel und ihre Überzeugung von einem erneuerten Aufstieg des Landes im Alleingang beflügeln sie. Ob die Entschlossenheit zu einem guten Ausgang führt, wissen wir nicht. Wir können auch nicht ahnen, ob das ein positiver zukunftsweisender Weg für andere Staaten sein könnte. Solch ein Trend ist möglich, für uns mit der eigenen Geschichte möchte ich ihn nicht willkommen heißen. Eine gewisse Verunsicherung und Abwehrhaltung scheinen generell bereits in der Luft zu liegen, wenn man landauf, landab den Ausspruch „alles gut!“ hört, noch ehe ein Problem substantiell erörtert worden ist. Das kommt mir vor wie eine Beschwörungsformel.

 

Ein weiteres, Besorgnis erregendes Thema ist der demografisch bedingte gesellschaftliche Wandel in den wohlhabenden Staaten, die ALTERSSTRUKTUR der Bevölkerung, denn die Anzahl der Älteren überwiegt deutlich die der Jüngeren. Demokratien sind auf ihre Wähler angewiesen. Hier nun zeigt sich eine deutliche Kluft, eine Störung des Gleichgewichts zwischen den Generationen mit spezifischen Folgen. Während die Alten sich eher beharrend verhalten und mental in die Vergangenheit zurück gehen, agieren die Jugendlichen zukunftsgewandt. Die beiden Einstellungen sind komplementär, gehören gleichwohl zusammen – sie verlaufen jedoch in verschiedene Richtungen. Auf der Seite der Beharrenden ist die Mehrheit und die Macht, auf der anderen der Protest, konkret in der Bewegung der Fridays for Future zu erkennen Wie kann die Kluft ohne Groll überbrückt werden? Dabei geht es nicht zuletzt auch um die Kosten, finanziell und immateriell, den persönlichen Einsatz, worauf ich an dieser Stelle nicht eingehen kann.

Unsere Zeit des schnellen Wandels mit der digitalen Revolution ist in der Tat voll von Überraschungen. Menschen in hohem Alter, wie mir, machen die dynamischen Neuerungen viel Mühe. Man wird auf eine ganz neuartige Weise hilfsbedürftig, und das zusätzlich zu den erwartbaren körperlich bedingten Einschränkungen (hören, sehen, gehen).

 

Mit einem anderen „Problem“ kann ich mich meines Erachtens kompetenter und engagierter auseinandersetzen, da ich einen Großteil meines Lebens im Ausland verbracht habe. Es betrifft den Diskurs rund um das Stichwort INTEGRATION.

 

Dieser Begriff scheint für die Neuen, die Zuwanderer reserviert zu sein, die Nicht- deutschstämmigen und gilt als Aufforderung. So die allgemein von beiden Seiten akzeptierte Überzeugung. Die Aufgaben sind verteilt: von deutscher Seite sind staatlich das Finanzielle und privat das Ehrenamtliche und der gute Wille vorgesehen. Daraus ergibt sich notwendig eine Überforderung eigener Art. Denn hier greift man mit einem statischen, bzw. rückwärtsgewandten Selbstverständnis auf eine neue Situation zu. Das Glück der deutschen Wiedervereinigung vor nunmehr 30 Jahren verstärkte das innewohnende Konfliktpotenzial im Umgang mit Fremden und die immer dramatischer erscheinende Situation noch einmal beträchtlich. Auch die bei der Osterweiterung neu aufgenommenen europäischen Länder traf die Zuwanderung unvorbereitet. – Ich beziehe mich auf die Tatsache, dass gerade in den genannten Regionen zuvor wenig Kontaktmöglichkeiten zur globalen Außenwelt bestanden haben und infolgedessen die „Berührungsängste“ bei der Aufnahme von Flüchtlingen ungebremst, hervortreten konnten.

Hier muss man ansetzen und fragen, sind die Deutschen der Berliner Republik – sowie auch alle Europäer – bereit zu eigenen Integrationsleistungen? Können sie die Vision eines neuartigen Staatsvolkes akzeptieren ohne Wut und Verlustängste? Sind sie integrationsfähig, integrationswillig? Ist die Situation notwendigerweise nur als Bedrohung aufzufassen oder kann man sie auch positiv gestalten und akzeptieren, ein neues Selbstverständnis aufbauen?

Die transnational konzipierte Europäische Integration wird als Friedensprojekt seit langem von der politischen Führungsebene angestrebt und verwaltet, allerdings mit Blick auf das relativ geringe Wohlstandsgefälle im Rahmen der Mitglieder und Kandidaten. Das EU-Projekt ist nach dem Chaos des 2. Weltkriegs geboren und zweifellos erfolgreich. Nun aber scheint die Ruhe im Inneren der Einzelstaaten gefährdet. Denn die Menschen, die aus Not und Gefahr in die Region kommen, haben ein anderes Lebensgefühl. Sie führen ein anderes kulturelles Erbe mit sich. Sie verlassen ihre Heimatländer, wo zumeist kriegsbedingt und klimabedingt extreme Lebensbedingungen herrschen. Die Digitalisierung und die Globalisierung, die im Verein mit der liberalen Marktwirtschaft unseren Wohlstand noch einmal beträchtlich angehoben hat, brachte ihnen die verlockenden Bilder über das gute Leben in Europa. Und sie wähnen das in greifbarer Nähe, wenn sie die Flüchtlingsroute unter Lebensgefahr wählen. Sie kommen gewissermaßen ohne materielle Mitgift an. Die Zusammenhänge sind bekannt und offenbar zwanghaft.

Und was weiß man in unseren Ländern über sie? Herzlich wenig! Das ist ein großes Manko für unsere Gesellschaft. Denn hier ist eine Bereitschaft für Veränderungen zwingend nötig und dafür muss der eigene Verstehenshorizont erweitert sein. Ein Umdenken ist dringend geboten, jedoch nicht im rückwärtsgewandten Sinne mit dem Fokus auf die eigene Ethnie. Eine dumpfe Abwehrhaltung führt nicht weiter. Auch ist die Lehre der christlichen Nächstenliebe nicht hinreichend für unsere Integrationsfähigkeit in einer sich verändernden Welt. Daher muss das Umdenken im Kontext folgender Fragen geschehen: Ist unser Verstehenshorizont ausreichend ausgebildet? Kann er die gesellschaftlichen Veränderungen aktiv verarbeiten? Im Moment sicher nicht. Denn um dieses Dilemma langfristig lösen zu können braucht es nicht nur die Lehre von der christlichen Nächstenliebe sondern einen eigenen Integrationswillen und eine entsprechende Kompetenz auf Seiten der Wohlstandsgesellschaft. Es ist zweifellos nicht mehr mit gütiger Zuwendung getan. Die Situation verlangt gleichstarke Leistungen auf beiden Seiten.

Die Tendenz zur Spaltung in der Gesellschaft ist stark, wie man in dem Wahlverhalten 2019 ablesen kann. Die Neuen sollen sich bewähren, anstrengen, wir Deutsche liegen insgesamt richtig, sind verdienterweise privilegiert (trotz Klassendifferenzen und Altersarmut). Von uns werden keine besonderen Anstrengungen verlangt. Das ist einseitig gedacht, die dynamischen Entwicklungen werden ausgeblendet. So kann Integration aber nicht gelingen! - Diesen Gedanken formulierte unlängst mein Enkel Jesse.

Die Jugendlichen erleben in der Schule schon eher ein Miteinander; sie sind ja selbst zum Teil ein Produkt aus „Mischehen“. Doch wird ihnen durch die Lehrinhalte eine Kompetenz zur Veränderung nahegebracht? So lange die Angst vor dem Verlust der überkommenen deutschen Kultur vorherrscht, muss man skeptisch sein. In Verbindung mit dem Unwissen über die traditionellen Wurzeln der neuen Zuwanderer und der mangelnden Auseinandersetzung mit deren kulturellem Erbe kann die Zukunft hier im Lande jedoch nur düster wahrgenommen werden. Von der Wirtschaft verlangt man, sich neu zu erfinden. Das muss auch für das soziale Miteinander gelten. Es muss neue Visionen geben!

 

Ein weiterer, sehr entscheidender Punkt sei hier noch genannt: Die Besorgnis um den KLIMAWANDEL. In der Hinsicht sitzen wir als Bewohner dieses Planeten ja alle in einem Boot, sind alle betroffen. Darin liegt vielleicht der gravierendste Grund für die große allgemeine Unsicherheit und Nervosität. Wie wird es weitergehen?  Ich weiß es nicht.

Jedoch dürften Maßnahmen wie die Ausgrenzung von Menschen und die Abgrenzung des eigenen Territoriums durch Zäune völlig zwecklos sein. Als offene Fragen gelten gegenwärtig zwei Ansätze. Sollte man sich eher für die Forcierung neuer technischer Entwicklungen einsetzen oder für eine Haltung der Reduzierung von Konsum, eine Revision der eigenen Ansprüche bei den wohlhabenden Nationen? Dann ginge es um die Zumutung von Verzicht, was die Regierungen unbedingt vermeiden wollen. Sollte man dennoch eine „neue Bescheidenheit“ propagieren, eine Abkehr vom Wachstumsprinzip? Ich neige zu Letzterem, aber ein mittlerer Weg ist vermutlich am geeignetsten. Unsere Wohlstandsgesellschaft ist so selbstbewusst und zufrieden mit ihren Errungenschaften, dass man ohne eklatante Ereignisse wohl wenig erreichen kann. Man wird den sanften Weg wählen und mit einem im Unbewussten verankerten Funken Hoffnung in die neue Dekade hinein gehen.

So bleibt es – wie eigentlich bisher immer – offen, wie unsere Welt zum nächsten Jahreswechsel (2020/21) ausschauen wird.  

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Gedanken zum Jahreswechsel 2020 / 2021

mitsamt Vorschlägen zu einer Neuausrichtung des Sprachunterrichts in Schulen

 

 

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Wir leben in einer besonderen Zeit, im Zeichen der Globalisierung. Die Pandemie verschaffte uns weltweit gemeinsame Erfahrungen, die hoffentlich zu einer friedlicheren Koexistenz der Völker dieser Erde führen. Schon jetzt kann man beobachten, dass ein Gefühl für Solidarität gewachsen ist. Hoffen wir, dass das CORONA-VIRUS im Schlepptau seines Schreckens und leidvollen Wirkens auch positive Nebenwirkungen hervorbringt.

Ich erinnere mich an einen häufigen Ausspruch unserer Mutter, wenn ihr das Treiben der Kinder über den Kopf zu wachsen schien. Sie sagte dann:  

                   Kommt zur Besinnung!

Und vom Vater hörte ich in den Kriegsjahren nach Feierlichkeiten oft den Satz:

      Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von schönen Tagen.

Diese elterlichen Ermahnungen repräsentieren ein Grundgefühl, das uns heutzutage erreichen kann. Ein lustbetontes Leben scheint keine Selbstverständlichkeit zu sein. Eine Stärkung der Moral kann in dieser Welt nunmehr als notwendig erkannt werden. Schließlich ist unbestritten, dass die offenbaren Probleme des Klimawandels und der weltweiten ungerechten Verteilung der Ressourcen unter den Völkern dringend eine Richtungsänderung des Denkens und Fühlens erfordern. Konkret muss es darum gehen, die Fluchtgründe zu beseitigen und die Geflüchteten adäquat zu versorgen, wie es vor Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg mit Angehörigen der eigenen Ethnie gelungen ist.

Ich denke auch, dass der „Krieg gegen den Terror“, der 2001 ausgerufen wurde und keineswegs siegreich beendet werden konnte, von der Oberfläche weg zu den Wurzeln gedacht werden muss. Ist es doch die Kluft zwischen den reicheren und ärmeren Regionen und im Zusammenhang damit die Verachtung Andersgläubiger, die zu solchen Exzessen führen.

Die beiden Weltkriege, das übersteigerte Selbstbewusstsein der Kolonialmächte, Napoleons und Hitlers haben millionenfaches Blutvergießen und Leid in die Welt gebracht – und nun stockt uns seit Anfang 2020 der Atem aufgrund der Ausbreitung eines Virus, sodass wir weltweit in einer Ausnahmesituation leben. Das erinnert mich lebhaft an die häusliche Atmosphäre in meiner Kindheit, die vom Durchstehen schwerer Zeiten geprägt war. So war das Grundgefühl in unserer Familie. --- Zur Erläuterung: meine Eltern haben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vier Jahre lang den Ersten Weltkrieg erlebt, und wir gemeinsam sechs Jahre lang den Zweiten Weltkrieg. ---

Damals wie heute hört man von allen Seiten, die Rückkehr zur Normalität sei das Ziel aller auferlegten Maßnahmen. Jedoch muss man sich fragen, gab es jemals eine Normalität? Und war unsere Welt vor Corona wirklich in Ordnung? Die Sehnsucht kann man verstehen, doch wird das Geschehen nicht so simpel verlaufen. Schon jetzt, nach einem knappen Jahr, spürt man bleibende Veränderungen in vielen Bereichen des Lebens und Denkens.

Ich grabe ein wenig tiefer und stelle fest, dass Philosophen sich schon seit längerem kritische Gedanken über die traditionellen Gegenstände ihrer Forschung machen und eine Wende beobachten. In meiner Gießener Zeit als Hochschullehrerin (1970-1995) war Odo Marquard ein geschätzter Kollege an unserem Fachbereich. Freundlicherweise verteilte er 1981 seine frisch erschienene kleine Schrift „Abschied vom Prinzipiellen“. – Ich bekenne, dass ich die Texte damals nicht einordnen und verstehen konnte. Nun, im Ruhestand, habe ich das nachgeholt und kann mich auch auf neuere Veröffentlichungen stützen, die eine Richtung hin zur Praktischen Philosophie vertreten. Danach soll es nicht mehr nur um das reine Erkennen der Wahrheit in dieser Welt gehen, sondern auch um das Verhalten der Menschen, ihre subjektive Existenz. In den Blick kommt die gesamte Lebenswelt. Auch die Rolle der Sprache wird reflektiert und die Beziehung zur Umwelt.

Damit ist die seit der Moderne gültige Dualität von Natur und Geist in Frage gestellt. Für die Hochschulforschung betrifft es die strikte Trennung in Naturwissenschaften und Sozialwissenschaften / Geisteswissenschaften. Nehmen wir noch die rasanten Entwicklungen der Künstlichen Intelligenz (KI) und des Digitalen hinzu, so ist nicht zu bezweifeln, dass eine neue Zeitepoche angebrochen ist. Die Interpretation der Umwälzungen ist sicher noch nicht zufriedenstellend möglich, aber das Gefühl ist deutlich vorhanden – nun auf einen Gipfel gebracht durch die Pandemie und ihre möglichen Folgen, die nicht nur die Gesundheitssysteme

und die Medizin betreffen. Wie es weitergehen wird, weiß man nicht so genau. Meine Quellen sind

verständlicherweise sehr begrenzt. Trotzdem wage ich einige Deutungen. Inspiriert bin ich

insbesondere durch die Arbeiten von zwei weiteren Philosophen, und zwar Gerhard Gamm und

Thomas Bauer. Letzterer ist zugleich Arabist. Er hat 2018 eine kleine Textsammlung veröffentlicht,

die ebenfalls wie die von Marquard in Reclams Universalbibliothek erschienen ist. Sie trägt den Titel

Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust von Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Darin weist er auf den

Trend des Messens hin, auf den Impetus der unermüdlichen Datengenerierung, der Kategorisierungen,

der Standardisierung und generell der Bedeutungszuschreibung von Zahlen. Das wird heutzutage jeder

unschwer bestätigen können. Denn wenn man sich unterhält wird oft schlicht nach den „Zahlen“

gefragt. Dann sind die zentral in Berlin gemeldeten Fälle von Infizierten gemeint, die den Inzidenzwert

begründen. (Das ist die Menge der in 7 Tagen bestätigten Neuinfizierten, bezogen auf 100.000 Einwohner.)

Es handelt sich also um getestete Personen - unabhängig von den real existierenden Infizierten, deren Anzahl eben nicht eideutig erfassbar ist.          

                           

Auf die Arbeiten des Philosophen Gerhard Gamm wurde ich aufmerksam, als ich seinen Artikel „Der kluge Kopf. Unwissenheit – Ignoranz – Urteilskraft – Tabus der Wissensgesellschaft“ las, der in der Kulturzeitschrift LETTRE INTERNATIONAL, Nr. 89, 2010 erschienen ist. Darin beschäftigt er sich mit dem Begriffsumfang von „Wissen“, einer Kategorie, die seit Langem in den großen Printmedien eingeführt ist und deren Leser über dies und das aufklärt. Er berichtet, dass im Wörterbuch der Kognitionswissenschaften der 70er Jahre 40 (!) Sorten des Wissens aufgeführt seien. In den 80er Jahren sind dann noch neue Aspekte des Denkens unter Hinwendung zum Menschen hinzugekommen, sodass man unterscheidet zwischen Wissen & Information, Wissen & Verstehen sowie Wissen & Tun. Es geht also um eine Ausweitung und Differenzierung des Wissensbegriffs. In einer Auswahl nennt er: deklaratives und prozedurales Wissen; begriffliches und intuitives Wissen; domänenspezifisches und allgemeines Weltwissen; Hintergrund- und Schemawissen; Faktenwissen und Orientierungswissen und anderes mehr. Vielleicht fehlte noch „schulisches Wissen“? Ich verkürze hier notgedrungen die faszinierenden Ausführungen von Gamm. Schlussendlich fokussiert er auf ein robustes Wissen und die Bedeutung der Urteilskraft, die für das menschliche Denken in Hinblick auf je anstehende Entscheidungen ausschlaggebend ist – und nur dem „klugen Kopf“ eigen ist.

In dem Zusammenhang kommt die Rolle des Nichtwissens ins Spiel. Gamm schreibt, dass Wissen anästhesiert, wo hingegen Nichtwissen neugierig macht. Unwillkürlich denkt man an die Inhalte vieler schulischer Lehrpläne, die „Stoffe“, die den Schülern gegenwärtig online beigebracht werden sollen.

In seinem neueren Buch „Philosophie im Zeitalter der Extreme“ (2009) widmet er sich explizit dem Zusammenhang von erlebter Erfahrung und den Wissenschaften samt ihrer Fächergliederung und deren Methoden. Dabei konstatiert er, dass viele Phänomene der Psychologie, der Soziologie und der Ökonomie Experimente nach Art der Naturwissenschaften nicht zulassen. „Sie erlauben es einfach nicht, unter hoch-standardisierten Bedingungen die zu untersuchenden Variablen (einer hohen Komplexitätsstufe) so zu isolieren, zu tarieren und zu reproduzieren, dass eine Vergleichbarkeit zustande käme“ (s.S.137). – Unwillkürlich denkt man an die uneinheitlichen Krankheitsbilder und -verläufe während der Corona-Pandemie auf der einen Seite und die täglich veröffentlichten Fallzahlen auf der anderen, die sich allerdings mathematisch bearbeiten lassen.

Als weitere Quelle meiner Überlegungen zur Gegenwart hat mir das Buch von Maja Göpel „Unsere Welt neu denken. Eine Einladung.“ gedient. Es ist im Februar 2020 erschienen und hat bis heute auf der Bestsellerliste des SPIEGEL einen Spitzenplatz inne. Göpel weist darin auf die Notwendigkeit eines grundlegenden Umdenkens bezüglich unserer Wirtschafts- und Lebensweisen hin. Nun ist mit fast einem Jahr Pandemie tatsächlich einiges angeschoben, anderes aber blockiert worden. Ich hoffe, dass die in der Klima-Diskussion begonnene Sicht auf Nachhaltigkeit in vielen Bereichen aufgegriffen werden wird und sie einen Beitrag zum Erwerb robusten Wissens beitragen kann. Ich habe das Buch mehreren Personen meines Umfeldes geschenkt. Viele sagten, dass sie mit den Positionen völlig übereinstimmen. Auch meinen drei Enkeln habe ich je ein Exemplar überreicht, wohl wissend, dass sie nicht jetzt sondern vielleicht später die Zusammenhänge werden verstehen und bewerten können.

 

Mein Gebiet ist das der Bildung, speziell der Spracherziehung, und da sehe ich dringenden Handlungsbedarf in mehreren Hinsichten. Vordergründig ist durch den Lockdown anlässlich der Pandemie die mangelnde Ausstattung der Schulen und Nutzungspraxis der Kinder in Bezug auf die digitalen Medien offenbar geworden. Es muss aber m.E. ebenso dringend um eine grundlegende Revision der Inhalte und Zielvorgaben gehen, und das aus folgenden Gründen:

Zum einen ist die Vermittlung von Wissen zu reduzieren und auf den Aufbau von robustem Wissen auszurichten. Zum anderen muss es gelingen, die Entwicklung extremer terroristischer Tendenzen zu vermeiden.

Für beide Punkte ist es notwendig, das überkommene bürgerliche Bildungsideal, wie es vorwiegend in (humanistischen) Gymnasien angestrebt wird, zu überdenken. Ich meine, viele Fächer und deren Inhalte sollten nicht mehr mit den üblichen Lernzielen angestrebt werden, sondern als spezielle Angebote für wenige Interessierte in Randgebieten erscheinen.

In diesem Zusammenhang ist ein Hinweis auf die deutschen Begriffe aus dem Horizont der Pädagogik sinnvoll. Wir sprechen von BILDUNG und ERZIEHUNG, haben traditionell den Gebildeten oder Gelehrten, auch Belesenen als Ideal im Sinn und dazu den Schüler oder die Schülerin mit deutscher Muttersprache. Wenn wir an die Sprachfächer denken, geht es vorwiegend um europäische lebende Sprachen und deren Literatur, sowie um den Lateinunterricht, der durch das institutionalisierte Latinum eine besondere Stellung einnimmt.

Ein eindeutiges Randgebiet ist hingegen das Angebot von Deutsch als Fremdsprache (DaF).

Ich frage mich, kann es ein gutes Ende finden, wenn diese Zielvorstellungen verstetigt bleiben und die natürliche Mehrsprachigkeit in den Schulen ausgespart wird? Wenn das Haus brennt, werden gewaltige Anstrengungen unternommen, es wird mächtig viel Geld investiert, so gegenwärtig in die medizinische Forschung. Man bemüht sich, das Übel mit seinen Wurzeln zu beseitigen. Wäre es nicht genauso geboten in Bildung zu investieren, in eine Revision der Inhalte und Erziehungsziele im Kampf gegen den Extremismus und Terror? Es gibt ihn seit längeren im genuin deutschen Milieu und auch bei den Neubürgern. Zudem weiß man, dass die Aktivisten und Attentäter durch die Bildungssysteme der europäischen Schulen gegangen sind. Mit dem Wunsch nach Assimilation der Neuankömmlinge ist es offensichtlich nicht getan, und auch nicht allein mit repressiven Kontrollmaßnahmen.

Die bisherigen Integrationsbemühungen können leider nur Teilerfolge aufweisen. Notwendig ist daher ein grundlegendes Umdenken im Bildungsbereich, um die Basis, die in Deutschland zur Kaiserzeit gelegt wurde, zu revidieren. Eine besondere Dringlichkeit ergibt sich m.E. aufgrund der demografischen Gegebenheiten. Unsere alternde Gesellschaft braucht neue Impulse. – Ein Hinweis auf die konkreten Zahlen muss hier genügen:  es gibt gegenwärtig 5,7 Millionen Bürger im Alter von 80 Jahren und aufwärts und zugleich etwa dieselbe Anzahl von Menschen mit Migrationshintergrund, die mehrheitlich den aktiven, jüngeren Altersgruppen zuzurechnen sind.

Ich wiederhole: Es reicht nicht, die technische Ausstattung der Schulen auszubauen – nötig ist dies zweifellos. Die neuen Medien müssen installiert und nutzbar werden auch für die Diversität aller SchülerInnen und die Passgenauigkeit der Inhalte.

In den naturwissenschaftlichen Fächern ist eine Neuorientierung bereits erkennbar. Dort hat sich eine Vereinheitlichung bei den Sprachen herausgebildet, und zwar Englisch für die Kommunikation und Latein für die exakten Bezeichnungen von real existierenden Dingen. Die Aufgabe für die Geistes- und Kulturwissenschaften gestaltet sich jedoch völlig anders. Sie ist komplizierter und noch keineswegs gelöst. Denn die eigenen Traditionen zu überliefern steht weiterhin im Vordergrund der schulischen Bildung. In den Fächern „Sprache und Literatur“, „Geschichte“ u.a.  bleibt daher den Zugezogenen und Unterprivilegierten der Zutritt weitgehend versperrt. So kann es nicht überraschen, dass es bei der religiösen Orientierung und kulturellen Prägung zuweilen zu einem ungebremsten Eklat kommt. Hier muss angesetzt werden.

 

Einer meiner Enkel sagte neulich: „Oma, was würdest Du tun, wenn Du Kultusminister/in mit weitreichender Machtbefugnis wärest?“ Eine gute Frage. Meine Antwort klang etwa so: Ich würde nach dem Vorbild der Naturwissenschaften viel Geld besorgen und Arbeitsgruppen bilden und zunächst versuchen, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass wir ein Denken von der Oberfläche her nicht mehr akzeptieren dürfen. Weiterhin müsste die Praxis, dass es statt einer Mehrsprachigkeitsforschung und ihrer Didaktik nur Integrationskurse gibt, sehr schnell abgeschafft werden. Denn dabei handelt es sich lediglich um Schusterflickerei. Der sog. Multi-Kulti-Ansatz wurde sicherlich vor allem deshalb als desolat abgetan, weil er nicht entsprechend gefördert werden konnte. Es braucht viel Überzeugungsarbeit bei den Politikern und ihren Wählern – oder vielleicht eine große Krise, um einen Wandel einzuläuten. Immerhin haben wir gesehen, dass die Hochschul- und Schulpolitik nach den beiden Weltkriegen auf neue Füße gestellt werden konnte.

Das bringt mich dazu, weiter auszuholen. Vielleicht kann meine Stimme als „Altersweisheit“ über das Internet verbreitet, ja noch gehört werden. Die Verbindung von Politik und Bildung ist jedenfalls nicht zu leugnen. Völlig offenbar zeigt sich das in Diktaturen, wo die jeweiligen Ideologien, verpackt in Erziehungsziele, kompromisslos durchgesetzt werden. Ich wuchs auf mit dem Slogan: Ein Volk – ein Reich – ein Führer!  Dazu gab es als Verbündete nur die Italiener und die „tapferen“ Japaner, verdeutlicht durch Kamikaze-Flieger. Alle anderen Völker in dieser Welt waren für uns Feinde! Mir war das damals als Kind durchaus unheimlich und schwer verständlich. – Wohin der Führer uns führte, ist bekannt.

Unheimlich erscheint mir heutzutage auch die strikte Durchsetzung des Laizismus-Prinzips in Frankreich. Zweifellos ist der gewaltsame Mord an dem Lehrer Samuel Paty am 16. Oktober 2020 in diesem Zusammenhang zu sehen. Denn hier zeigt sich die starke Verbindung von Staatsraison und Erziehung sehr deutlich. Das Konfliktfeld der unterschiedlichen kulturellen Prägungen ist gewissermaßen vorprogrammiert, wenn die Durchsetzung der Meinungsfreiheit im staatlichen Rahmen des Schulsystems ausdrücklich bis hin zum Phänomen der Blasphemie pädagogisch angeordnet ist. Ich empfinde die Behandlung der vorhandenen Mohammed- Karikaturen als Beispiel für die geltende Meinungsfreiheit als unpassend und provokativ, insbesondere wenn Schüler muslimischen Glaubens die Adressaten sind. Besonders tragisch finde ich die Tatsache, dass der die Gesetzestreue einfordernde Staat ein demokratischer ist. Offenbar geht es um einen Kampf um die Deutungshoheit im Rahmen von „Vereindeutigung“ der Positionen auf beiden Seiten. Ich sehe hier einen Mangel an Ambiguitätstoleranz, wie Thomas Bauer das Fehlen von Offenheit und Vagheit nennt. Der Zusammenprall von religiösem Glauben und nationalstaatlichen Vorgaben führte offenbar zu dem katastrophalen Gewaltausbruch.

Besonders paradox erscheint mir die Tatsache, dass der Pädagoge vor dem Mordanschlag des radikalen Jugendlichen von einer lokalen Behörde zur Rede gestellt worden war, weil er die muslimischen SchülerInnen diskriminiert habe mit der Bemerkung, sie könnten den Klassenraum für die Zeit des Beispiels verlassen. Damit sei ihr Recht auf Gleichbehandlung im Unterricht verletzt worden. (Meine Quelle: Die ZEIT Nr.44, 22.Okt. 2020, Art. von Annika Joeres)  Fakt ist also demnach, dass Menschen nicht diskriminierend behandelt werden dürfen, wohl aber deren Glaubensrepräsentanten, ihre personifizierten Denk- und Gefühlsinhalte. Selbstverständlich ist jeder Mord zu verurteilen, und besonders so ein entsetzlicher. Pädagogen sollte aber die Tatsache zu denken geben, dass der Attentäter offensichtlich das französische staatliche Schulsystem durchlaufen hat und dass eine Lehrkraft in Ausübung ihrer Pflicht zum Opfer bei dem Gewaltverbrechen geworden ist. Hier ist etwas explodiert, was m.E. seit Jahrzehnten als Konflikt brodelnd im Untergrund vorhanden ist.

Seit Rousseau wird eine Erziehung vom Kinde aus verfolgt. Das sollte weiterhin gelten. Heutzutage muss man sich zudem eine Bildung unter Einbeziehung globaler Aspekte wünschen, was eine Relativierung der unreflektierten westlichen Dominanz im Bildungssektor bedeutet.

Im Feld der Politik ist die Überlegenheitshaltung des Okzidents gegenüber dem Orient sichtlich gescheitert. Das militärische Eingreifen hat wesentlich zu dem Scherbenhaufen im Nahen Osten geführt, der Auslöser für einen Großteil der Flüchtlingsströme geworden ist. Als ein weiteres Beispiel für kontrafunktionales Vorgehen kann die folgende absurde Überlegung aus jüngster Zeit gelten: In Regierungskreisen von Dänemark hat man erwogen, Predigten in Gotteshäusern nur noch in der offiziellen Landessprache zu erlauben., um eine Kontrolle in Moscheen zu gewährleisten. Dieser Vorschlag hat sich zwar nicht durchgesetzt, ist aber sehr aufschlussreich. Besonders interessant ist dabei die Tatsache, dass die deutschsprachige Kirchengemeinde sofort dagegen protestiert hat, weshalb diese Nachricht vermutlich in der Süddeutschen Zeitung Platz fand.  (Weihnachtsausgabe 2020)

 

Wie könnte der von mir vorgeschlagene Ansatz aussehen? Ich nenne mehrere Eckpunkte:

  1. Man muss konsequent an die vorhandenen Kompetenzen der SchülerInnen anknüpfen, also bilinguale SchülerInnen ebenso wie die monolingualen als Zielgruppen im Auge haben – hier unter der Überschrift von natürlicher Mehrsprachigkeit und Einsprachigkeit.

  2. Die institutionellen Rollen der Sprachen als Familiensprache und Schulsprache mit der entsprechenden Bewertung muss ausgehebelt werden.

  3. Die Fächergruppierungen sind aufzubrechen und die Expertise der Alt- und Neuphilologen auf neuartiger Weise zu nutzen, als intellektuelle Bereicherung und Sensibilisierung.

  4. Man muss bei SchülerInnen und Lehrern die Fähigkeit anleiten, die Inhalte/den Stoff aus den digitalen Schatztruhen zu heben.

  5. Eine gemeinsame Beschäftigung mit vielen Sprachen muss ermöglicht werden durch offene Projektarbeit ohne Standardisierung.

Ich bin mir durchaus bewusst, dass solche Vorschläge nicht von heute auf morgen umgesetzt werden können. Selbst wenn dies gelänge, würden sie keine schnelle durchschlagende Wirkung zur Verhinderung gewalttätiger Terroranschläge aufweisen können. Wohl aber würde dadurch ein nachhaltiger Nutzen erbracht werden zum Rückbau der Entfremdung zwischen den im gleichen Staat auf dem gemeinsamen Territorium lebenden sozialen Gruppen, weil damit die Integrationsleistung nicht einseitig den Zuwanderern aufgebürdet wäre. Die Gesamtheit der Heranwachsenden, die Einsprachigen und die Mehrsprachigen, bekämen eine Chance für den Aufbau von robustem Wissen, das sie interessegeleitet im Detail durch Digitales erweitern können.

Es ist anzunehmen, dass von den staatstragenden Eliten sodann weniger derartige unrealistische Vorschläge kommen, wie der oben erwähnte von Dänemark bezüglich sprachlicher Restriktionen. Ähnlich grotesk, weltfremd und inakzeptabel erscheint im Lichte einer positiven Entwicklung auch die Aussage aus Regierungskreisen des EU-Mitglieds Slowakei im Jahre 2015, man könne keine geflüchteten Muslime aufnehmen, weil man keine Moscheen habe! -  Der Wunsch nach ethnischer und kultureller Homogenität in den östlichen mitteleuropäischen Ländern ist verständlich, da sie unter der Oberhoheit des Vielvölkerstaates der Sowjetunion gelitten haben. Das kann aber in unserer postmodernen globalisierten Welt keinesfalls als zukunftweisend verstanden werden.

 

Seit Jahren trage ich mich mit dem Problem der Ungleichgewichtung der Sprachen in den Schulsystemen. Mein diesbezüglicher Slogan lautet: LINGUISTICUM statt LATINUM. Diese Ausrichtung erscheint mir mittlerweile sehr eng, denn sie ist stark auf die akademische Ebene bezogen. Zudem ist das begrenzte Gebiet der Linguistik besonders hervorgehoben, wobei die Kluft zwischen dem Sprachgebrauch der natürlich – mehrsprachigen und dem eher theoretisch basierten Fremdsprachenunterricht zementiert wird.

Die verschiedenen in der Schule vorhandenen Sprachen – auch die unsichtbaren - müssen als Kompetenzen breit angegangen werden. Dazu ist wesentlich auch der kulturelle Aspekt zu berücksichtigen. Denn jede natürliche Sprache ist zugleich Kulturträger. Verschiedene Facetten des Sprachgebrauchs sind dabei relevant. Ich meine z.B. das Akustische, die Schriftlichkeit, die Bedeutungsgenerierung sowie auch die Nutzung als Machtfaktor. Bei der Entwicklung einer so erweitert gefassten ALLGEMEINEN SPRACHDIDAKTIK ließe sich die Expertise aus den Bereichen der Kulturanthropologie, Soziologie und Psychologie mit einbeziehen.

 

Nun wird man berechtigterweise fragen, wie all das inhaltlich konkret aussehen kann. In der heutigen Zeit lässt sich durchaus schon manches ermöglichen, was zuvor im Reich der Fantasie anzusiedeln gewesen wäre. Und es gibt auch jetzt schon Anknüpfungspunkte im pädagogischen Bereich, wenn man an „Spracherkundigungen“ denken würde, die nach Art der Pfadfinder-Jugend ausgerichtet sind. Die Einbindung von „Jedermann“ ist auch bereits erprobt, so nämlich bei dem Ansatz von CITIZEN SCIENCE, deutsch „Bürgerwissenschaft bzw. –forschung“ für den Bereich der Naturwissenschaften. Diese Initiative wird seit 2013 durch die Bundesregierung gefördert in Zusammenarbeit mit dem Museum für Naturkunde in Berlin (Plattform „Bürger Schaffen Wissen“).

Als grundlegendes Prinzip schulischen Lernens soll der Aufbau robusten Wissens gelten. Hier wäre es angebracht, durch ein Bewusstsein von Nichtwissen fremden Sprachen gegenüber Neugierde zu wecken, die Auslöser für Aktivitäten sein kann. Im Falle der SchülerInnen mit bilingualer Sprachkompetenz kann das vorzüglich für das im Hintergrund befindliche eigene sprachliche Wissen fruchtbar gemacht werden. – Vielleicht sollte man ein „Museum für Sprachen“ gründen, um Expertise zu kreieren, zu konzentrieren und Ansprechpartner neu zu gewinnen oder/und die Spieleindustrie zu einem entsprechenden Engagement motivieren!

Bei diesem Ansatz wird es am Ende jeglicher Bemühungen immer noch viele offene Fragen geben. Das ist erwünscht als Anstoß für weitere Suchaktivitäten. Grundlegend anders verhält es sich jedoch einem Verständnis von „Wissenslücken“ im vorgegebenen Lernstoff gegenüber.

Als schon geerdete Pfeiler können gelten:

  1. Die Tatsache, dass es nicht nur SchülerInnen sondern bereits auch viele LehramtskandidatInnen mit zwei Sprachen auf muttersprachlichem Niveau gibt;

  2. Der Umstand, dass die maschinelle Sprachbearbeitungsbranche jetzt schon nützliche Hilfen beim Übersetzen und bei der Rechtschreibung leistet.

Faszinierend finde ich zudem eine Idee des Kroaten ZDENKO VRANDECIC, der auch die US-amerikanische Staatsbürgerschaft besitzt. Er will eine sog. „Abstrakte Wikipedia“  schaffen. Darin sollen die mehrheitlich auf Englisch geschriebenen Artikel in allen möglichen Sprachen zur Verfügung gestellt werden. Schon jetzt gibt es Einträge in 300 Sprachen, dabei auch sehr viele etwa in Schwedisch, die mit BOTs erstellt werden. Das sind Computerprogramme, die weitgehend automatisch Aufgaben abarbeiten. (s. Der Spiegel vom 23.1. 2021) Für die Realisierung der kühnen Idee braucht man den „klugen Kopf“, der die Grenzen von Maschinen und der Künstlichen Intelligenz in Bezug auf Sprachen ausloten kann.  

Eine seit langem konventionell arbeitende Branche ist die der menschlichen Übersetzer und Dolmetscher. Deren Expertise sollte vielfältig genutzt werden. Denn diese Personen können schon heute Auskunft geben über das, was jeweils in den betreffenden Sprachpaaren besonders stark kulturell fundiert ist und bei der Mittlertätigkeit die größte Mühe macht.

Konkrete Projekte lassen sich auf verschiedenen Arbeitsfeldern ansiedeln. Einschlägige Fragen wären z.B.

  • Beim Sprachenvergleich in der Akustik; Wie hören sich die Sprachen an? Welche Laute sind vorherrschend? Wie klingt die Nationalhymne?

  • Bei der Schreibung ist die Aufmerksamkeit schon bei den nicht in Deutschland bislang gängigen Namen gewachsen; wie spricht man das aus?

  • Wie funktioniert die Grammatik? Welche Strukturen werden genutzt?

  • Wie ist die Bedeutung codiert? Wie sind z.B. die Denkkonzepte von deutsch „HABEN“ oder „MÜSSEN“ in anderen Sprachen ausdrückbar?

  • Wie wurden die „Hochsprachen“ normiert?

  • Was sind Sprachfamilien?

  • Wie steht es mit den „Heiligen“ Sprachen?

  •  Wie kommt es zu der Machtfülle von Slogans und Hassreden?

Es gibt 1001 Möglichkeiten, sich mit Sprache allgemein und Einzelsprachen im Besonderen zu beschäftigen und das kann auf 101 Ebenen geschehen, linguistisch und philologisch anspruchsvoll und in der alltäglichen Rede. Sprachen sind allgegenwärtig. Es ist ein Gebot der Fairness, nicht nur die Sprachen der Menschen in den reichen Ländern, die etwa 14% der Weltbevölkerung ausmachen, in den Schulen ernst zu nehmen. Ein verstetigtes, eng geführtes eurozentrisches Vorgehen erweckt – gewollt oder ungewollt – fremdenfeindliche Gefühle und die Ablehnung anderer Überzeugungen, die vermeintlich noch unterentwickelt sind.

Deshalb ist es lohnend, möglich und notwendig, eine allgemeine Sprachdidaktik zu entwickeln und zu fördern. Sodann ist die natürliche Mehrsprachigkeit der SchülerInnen zu belohnen statt sie zu unterdrücken. Ein Anfang könnte im Ganztagsunterricht gemacht werden, wobei die Monolingualen automatisch zur Reflexion ihrer eigenen Sprache angeregt werden. Vieles ist schon in Bewegung. Von höchster Stelle hört man, dass eine Wende im Bildungssystem ansteht. Die Lehrkräfte sollen zukünftig vor allem eine „Coachfunktion“ übernehmen, so Andreas Schleicher, der „Papst“ der Pisastudie. Das hier Vorgestellte wäre eine einschlägige Anwendung. Im Idealfall ergeben sich dadurch außerdem Hilfen zum Erlernen fremder Sprachen - ein neues Interesse für Reisen ins Ausland.

Die sprachenbezogenen Arbeiten des Europarats haben schon vor Jahrzehnten viele Facetten aufgezeigt. Auch das könnte in größerer Breite aufgegriffen werden- nicht nur die Skalierung der Niveaustufen zu Prüfzwecken. Man könnte einen Bundesbeauftragten für Vielsprachigkeit ernennen und so ließe sich der Trend fortsetzen, der durch den Beschluss des Bündnis 90 - Die Grünen am 18.12. 2020 manifest wurde. Da gibt es neuerdings nun ein VIELFALTSSTATUT für politische Teilhabe und Partizipation, inklusives Denken und Vermeidung von Diskriminierung.

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Zum Abschluss:  Meine Integration in Deutschland scheint vollendet zu sein. Denn alle Mitmenschen haben gegenwärtig das gleiche Thema. Es ist die Sorge um ihre Gesundheit und damit verbunden der Umgang mit den restriktiven Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus Covid 19. So ticke ich im gleichen Takt wie alle Lauterberger. Dabei kann ich sogar einen leichten Vorteil vermelden. Denn dank der Schließung eines hiesigen Sanatoriums hat deren Krankengymnastin mehr Zeit für Patienten von außerhalb wie mich. Das ergibt sogar ein Gesundheits-Plus. Der Bedarf für die Anwendungen war entstanden, da sich bei mir im Herbst verschiedene Krankheiten eingefunden hatten – keine Coronainfektion sondern Probleme am linken Bein, der Schulter und der Hand.

Nun steht aktuell das massenweise Impfen an. Allerdings gibt es momentan (Ende Januar 2021) Engpässe bei der Lieferung des Impfstoffs. Als über 80Jährige gehöre ich zu den „Privilegierten“, die zuerst an der Reihe sind. Jedoch bin ich skeptisch und möchte gerne anderen den Vortritt lassen. Mein Leben als Seniorin spielt sich sowieso wie eine Art Quarantäne in der Wohnung ab. Die Arbeit in der Küche und am Haus ist „corona-konform“, soziale Kontakte sind medienbasiert. Schließlich verlangt auch mein Schreiben eine Klausur-Atmosphäre. Nur beim Einkauf und bei Arztbesuchen komme ich unter Menschen – mit Maske! Ohne Maske ist mein täglicher Gang im Wald und im Kurpark möglich. Und da trifft man nun immer wieder die gleichen Personen, die Einheimischen, und man wird heimisch. Dabei kann ich an alte Lebensgewohnheiten anknüpfen, weil mein LEBENSABEND und der LEBENSMORGEN der Kindheit an demselben Ort Ähnlichkeiten aufweisen. Man geht in den Wald, den Nahbereich, man isst Haferflocken, Äpfel, Möhren, Kartoffeln und Brot als Grundnahrungsmittel, dazu evtl. noch Grünkohl aus dem Garten und es fällt Schnee.  

Damals wie heute gab es schließlich eine alles beherrschende Krise. Vor 80 Jahren, als wir von Hamburg nach Lauterberg kamen, war es der Krieg. Heute ist es die Corona-Pandemie, deren Ende nicht abzusehen ist.

Redaktionsschluss: 31. Januar 2021

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Reflexionen zum Jahreswechsel 2021 / 2022

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Die Gedanken zu ordnen, fällt mir momentan – im Januar 2022 – sehr schwer.

Doch drängt es mich, einen Rückblick und eine Vorschau zu wagen auf der Basis gegenwärtiger Wahrnehmungen.

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Bei den Wünschen für das neue Jahr rangierte die Hoffnung auf Abwesenheit des Corona-Virus in unserer Welt an erster Stelle. Nun meint man, dass dieser Wunsch nur teilweise in Erfüllung gehen wird. Denn mittlerweile hat sich eine neue Variante entwickelt und ausgebreitet. Mit dieser nun dominierenden Mutation namens Omikron gehen offenbar mildere Krankheitsverläufe einher, was schon ein Grund zur Freude ist. Gleichzeitig erhöhte sich das Ansteckungspotenzial. Man hat also Grund zur Annahme, dass die Seuche nicht so schnell verschwinden wird, wie sie angekommen ist und sich auf dem ganzen Globus verbreitet hat. Das ist nunmehr zwei Jahre her. Vieles hat sich in der Zeit geändert.

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Was wir zuvor als Normalität im sozialen Miteinander empfunden hatten, scheint in rasendem Tempo aufgelöst zu sein. Die Aufmerksamkeit gilt primär der Ausbreitung des Virus. Das Infektionsgeschehen wird beobachtet und zahlenmäßig dokumentiert. Sodann erfolgen Verhaltensvorschriften von Seiten der Regierungen. Viele Einschränkungen im sozialen Verhalten sind uns nunmehr auferlegt worden. Eine Reihe von Maßnahmen gelten seit Anfang 2020! Allgemein geht es um Kontaktvermeidung. Nur das Allernotwendigste, das Systemrelevante, soll wie üblich weitergehen.  Dabei gibt es Abstandsregeln zu befolgen und Masken müssen getragen werden. Zudem wurde der Einsatz von Tests in vielen Zusammenhängen obligatorisch. Bei positivem Befund gilt eine Meldepflicht zur Nachverfolgung der Kontakte mit Quarantäneauflagen. Dabei sind die staatlichen Gesundheitsämter in die Pflicht genommen. Sie müssen die Daten liefern, die dann – verarbeitet vom Robert-Koch-Institut - als sog. Inzidenzwerte herausgeben werden. Der Bürger wird solcher Art mit Daten versehen, die den Gesamtverlauf der Pandemie im eigenen Staat dokumentieren.

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Einerseits gewöhnt man sich an solche Gegebenheiten und verfolgt interessiert die Zahlen, andererseits ist die Akzeptanz der Auflagen in der Bevölkerung nicht mehr so verbreitet wie in dem ersten Jahr der Pandemie, als noch die Hoffnung zur Überwindung der Krise auf der Entwicklung und Beschaffung von Impfstoffen ruhte. Nun sind sie - zumindest in den reichen Ländern - ausreichend vorhanden, haben aber offenbar nicht die erwünschte dauerhaft gültige Wirkung gezeitigt. Die Pandemie existiert weiter, die Ansteckungsgefahr ist nicht getilgt, weder bei den Geimpften noch bei denen, die die Krankheit durchgemacht haben, den Genesenen, noch bei der Gruppe der Ungeimpften. Eine Welle folgte nach der anderen, zuverlässig bei uns im Herbst.

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Offenbar handelt es sich um einen Krieg der Menschen gegen einen biologischen Feind mit großem Potenzial. Gegenwärtig erleben wir Höchststände bei den gemeldeten Infektionszahlen und gleichzeitig breitet sich ein Gefühl der Machtlosigkeit aus. Dabei steht das Impfen im Zentrum der Diskussion. Von Seiten der Experten in der Verwaltung will man vorsorgen und eine Impfpflicht einführen, flankiert möglichst mit einem Register zur Durchsetzung der Anordnungen, denn die Impfquote in Deutschland sei sehr niedrig. Impfskeptiker und Impfgegner stehen dagegen auf. Die Meinungen gehen stark auseinander. Daher sind die Debatten im Parlament bisher auch ergebnisoffen verlaufen. Währenddessen scheint eine Durchseuchung in Gang gekommen zu sein. Und so stellt sich die Frage, ist die präventiv angelegte Maßnahme zielführend, wenn sich die Situation in so schnellem Tempo verändert und sich ein Kontrollverlust abzeichnet?

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Schon zu Beginn der Pandemie konnte man den Spruch hören: Was macht das Virus mit uns? Nun lässt sich hinzufügen: was machen die Regierenden mit uns? Eindeutige Antworten stehen noch aus. Zur allgemeinen Unsicherheit und Verwirrung hat zweifellos auch die Tatsache geführt, dass die vorhandenen Impfstoffe offensichtlich nur für ein paar Monate wirksam sind und dementsprechend die Regeln verschärft wurden. Eine dritte Impfung – genannt Booster – ist mittlerweile obligatorisch, um als geimpft zu gelten. Wann folgt dann die vierte, fünfte, sechste Spritze, etwa im Abstand von jeweils einem Vierteljahr?

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Man weiß es nicht, aber deutlich ist bereits eine Spaltung in der Gesellschaft zu erkennen. Da die Omikron Variante für den Einzelnen offenbar weniger gefährlich ist, scheint die Zustimmung zum Regierungshandeln geringer zu werden. Spannung liegt in der Luft, angefeuert durch die Kommunikationsmöglichkeiten der sozialen Medien. Man blickt ins Ausland und stellt fest, dass die Nachbarländer trotz oder wegen der hohen Infektiosität des grassierenden Virus ihre Kontaktbeschränkungen teilweise aufgehoben haben. In den Niederlanden wurde sogar die Unzufriedenheit der Bevölkerung als Motiv genannt.

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Wie es in diesem Jahr weitergehen wird, ist nicht abzusehen. Ich breche hier ab.

 

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Ein weiteres aktuell sehr drängendes Thema ist der Klimawandel bzw. die Klimakrise oder Katastrophe mit all ihren Auswirkungen. Auch hier erkennen wir die weltweite Dimension, die die gewohnte Normalität des Lebens aller Menschen, Tiere und Pflanzen auf dieser Erde beeinträchtigt. Im Unterschied zur Krise im Gesundheitswesen aufgrund des neuartigen Virus ist der Klimawandel schon seit Jahrzehnten bekannt. Jedoch wurde er geflissentlich von den Verantwortlichen weitgehend ignoriert, um den Wohlstand zu erhalten, die Stimmung der Bevölkerung nicht zu trüben und das florierende Wirtschaftswachstum nicht zu schwächen. Jetzt, nach den Ereignissen des letzten Jahres, der Flutkatastrophe in Deutschland, dem deutlich sichtbaren Waldsterben vielerorts, den immer wieder auflodernden Waldbränden in verschiedenen Erdteilen und der Eisschmelze an den Polen lässt sich die Haltung des Zuwartens nicht mehr aufrechterhalten. Sie wird als verantwortungslos bezeichnet und besonders von der Jugend lautstark bekämpft. Man denke an das Aufbegehren der Gruppen um Greta Thunberg mit den Schulstreiks „Fridays for future“ und weitere Proteste.

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Seit langem sind die Hauptverursacher der Krise bekannt. Die Industrienationen mit ihrem rasanten Wirtschaftswachstum sind als Schuldige entlarvt. Gegenmaßnahmen sind anvisiert – nun scheint es, dass sie konkreter angegangen werden sollen.

In der Bundesrepublik haben wir im September 2021 eine neue Regierung gewählt, die eine umfassende Transformation des Wirtschaftens auf den Weg bringen soll und will. Auffällig ist eine deutliche Verjüngung der Parlamentarier und Regierungsmitglieder. Unsere insgesamt alternde Gesellschaft liegt jetzt weitgehend in der Hand jüngerer Menschen, wird deren Anschauungen und Einschätzungen folgen. Das ist ein Vorteil in unserer schnelllebigen Zeit. Die Frage, ob Verzicht oder Fortschritt die Leitlinien des Handelns bestimmen soll, scheint zugunsten der technischen Entwicklungsmöglichkeiten entschieden.

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Mehr Fortschritt wagen – so lautet die Devise der Regierung zur Zukunftsorientierung. Das klingt hoffnungsvoll. Ich denke, dennoch wird der Verzicht-Aspekt hinein in das Getriebe kommen, nur eben durch eine andere Pforte, und zwar aufgrund schlichter Tatsachen bei einer allgemeinen wirtschaftlichen Rezession, die schon jetzt, im Februar 2022, anhand der Preissteigerungen bei Waren des täglichen Bedarfs (Benzin und Lebensmittel) erkennbar sind. Man kann nur hoffen, dass dabei die Auswirkungen durch staatliche Unterstützung sozialwirksam abgefedert werden können.

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Worin besteht das Fortschrittsprojekt? Fossile Energiequellen sollen unter Einsatz technischer Mittel durch nachhaltige ersetzt werden - bei Erhalt des Wirtschaftswachstums. So wird es propagiert. Das Experiment steht jedoch meines Erachtens auf schwachen Füßen. In unserer Demokratie ist die Akzeptanz vorhanden, die Belastbarkeit der Menschen hingegen ungeklärt. Gesellschaftliche Umbrüche gehen häufig mit explosiven Reaktionen einher. Schauen wir zurück: nach der totalen Kapitulation Nazideutschlands 1945 war aufgrund des erlebten wirtschaftlichen Zusammenbruchs die Angst vor der Zukunft real. Erfreulicherweise erfolgte ein stetiger Aufstieg. Eine positive Erfahrung liegt hinter uns. Heutzutage ist der begonnene Umbruch bei einem Leben auf sehr hohem Niveau eher als Abstieg vorstellbar. Verzicht ohne positive Zielvorgabe wird meines Erachtens in der Breite nicht freiwillig auf sich genommen. Er bekommt den Charakter einer Notwendigkeit, die unerwünscht ist.

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Man darf gespannt sein. Erkennbar ist jedenfalls die globale Dimension der gegenwärtigen Krisen (Seuche und Umwelt). Sie können nicht in nationalem Rahmen behoben werden. In den einzelnen Ländern wird es je spezifische Auswirkungen geben, die zu Angriffen gegen die Verantwortlichen führen. Überregional stellen sich viele Fragen wie diese: Kann ein Rückbau des weltweiten klimabelastenden Handels ohne Komplikationen erfolgen?  Können die etablierten Lieferketten mit ihrer Funktionsfähigkeit für den Erhalt unseres Wohlstands beibehalten bleiben? Kann das klimaschädliche Wirtschaftswesen in kurzer Zeit überhaupt grundlegend verändert werden? Oder konkreter: Wird man ein Leben ohne die Freuden des Ferntourismus, der individuellen Mobilität mit dem PKW und des hochkarätigen Konsums akzeptieren?

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Den Preis für unseren Wohlstand hat die Umwelt bezahlt, und nun ist die Bewohnbarkeit der Erde in akuter Gefahr. Das wissen wir alle, denn die Digitalisierung bringt uns das bildhaft vor Augen.  Doch im Einzelnen möchten wir das nicht wahrhaben, wir versuchen, die unbequeme Last zu verdrängen, effektive Maßnahmen hinauszuzögern. Die Aufmerksamkeit gilt dem aktuellen Geschehen im Gesundheitssektor – und nun auch der Ukraine-Krise.

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Als Zukunftsvision steht für Viele eine Rückkehr zur „Normalität“ im Raum. Jedoch wird es sie nicht geben. So etwas ist offenbar nicht verhandelbar – mit wem auch? Wer könnte jetzt noch so ein Versprechen glaubhaft vorbringen?

Heinz Bude, Professor der Soziologie in Kassel, formuliert das in einem Interview so: Wir werden an einen Ort zurückkehren, an dem wir noch nicht waren. (S. Der Spiegel, 5.1.22) Das klingt seltsam unlogisch, macht aber Sinn. Notwendigkeiten und neue Möglichkeiten werden zu vereinbaren sein. Es kann kein linear gedachtes Zurück geben. Eine neue Normalität muss erzeugt werden, neue Ortsbestimmungen vielfältiger Art sind zu erwarten.

 

 

 

Wie kann der erzwungene Wandel in Deutschland mit der alternden Bevölkerung mitten in Europa aussehen? Plädoyers wie USA first oder die Vision von der ehemaligen Stärke des britischen Empires geben sicherlich keine Vorbilder ab. Für Deutschland scheint sich vorerst kein Leitbild am Horizont abzuzeichnen. Eine Analyse der jüngsten Vergangenheit kann evtl. aufschlussreich sein. Denn in dem vergangenen Jahr 2021 wurden wir Zeugen mehrerer außergewöhnlicher Ereignisse. Neben der stetigen schleichenden Umweltveränderung und der Hartnäckigkeit der Pandemie sind in der Weltpolitik dramatische Dinge vor sich gegangen, die zuvor unvorstellbar erschienen. Man denke an den Sturm auf das Kapitol in Washington im Januar und den unrühmlichen Abgang der westlichen Militärpräsenz aus Afghanistan im August. Und jetzt hat Russland eine Drohkulisse im Osten Europas aufgebaut. Im NATO-Bündnis spricht man von einer besonderen Gefahrenlage und in den Nachrichten wird der Beginn eines großen Krieges nicht mehr ausgeschlossen (Mitte Februar). Neben hochrangigen diplomatischen Bemühungen gibt es intensivierte militärische Bewegungen in Osteuropa. Truppenentsendungen und die Erweiterung von Stützpunkten des westlichen Bündnisses sind aktuell im Gange.

Unser Sicherheitsbedürfnis ist mittlerweile stark beschädigt. Existentielle Ängste breiten sich aus.  Ein Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine erscheint möglich. Der Adressat, die NATO fordert Geschlossenheit ihrer 30 Mitgliedsländer ein, aktiviert ihr Militärpotenzial und versucht gleichzeitig zu deeskalieren mit Hinweis auf mögliche Sanktionen im wirtschaftlichen Bereich. Schon jetzt steht fest, dass es etliche Gewinner geben wird, denn der russische Präsident Putin erhält erhöhte Aufmerksamkeit und unter der Führung der USA müssen die Nato-Verbündeten ihre Militärausgaben verstärken. Die Waffenindustrie bekommt Aufwind. Vorrangig ist bei alledem der wirtschaftliche Aspekt – es geht um die Inbetriebnahme der neuen Gaspipeline aus Russland und den Verkauf von Flüssiggas aus den USA. Im Hintergrund wirksam sind die Machtverluste der ehemaligen Sowjetunion aufgrund des Zusammenbruchs des Ostblocks.

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Zurzeit gibt es sehr viele ungelöste Probleme, die kein gutes Gefühl für zukünftige Wege aufkommen lassen. Man lebt im Hier und Jetzt und konzentriert sich auf Strategien der Vermeidung heraufziehenden Unheils.

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Besonders bedrückend empfinde ich, dass die Konfrontation, der ökonomische Wettbewerb der Weltmächte - samt ihrer Ideologien auf dem Rücken der Bevölkerungen ausgetragen wird. In den Zusammenhang gehören auch die gelenkten Fluchtbewegungen von Menschen in Richtung Europa. Die Ärmsten und Hilfsbedürftigsten werden instrumentalisiert. Man denke an die Balkanroute 2014/15 oder die Grenzaktivitäten in Belarus/Polen ab August 2021 als große Gruppen Flüchtender mithilfe von Schleusern und staatlicher Billigung nach Westen geleitet wurden – oder auch an die gezielten Grenzöffnungen der Türkei im Ägäischen Meer, die den Weg in den EU-Staat Griechenland ermöglichten.

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Das eindeutige Ziel der Migranten sind die wohlhabenden westlichen Länder. Aber gerade dort gibt es sehr heftige Ablehnung, worauf die Regierungen mit verstärkter Abwehr an den Grenzen reagieren. Dieser Umstand führt direkt in ein moralisches Dilemma. Die Verteidigung der Menschenrechte in der sog. Werteunion kann nicht mehr aufrechterhalten werden. Das ist eine dauerhafte Schwäche des Westens, die erpressbar macht. Auch der „Krieg gegen den Terror“, ausgerufen nach dem 11. September 2001, hat keinen endgültigen Sieg hervorgebracht. Stattdessen breitet sich die Angst vor den Fremden, die vermeintlich unsere kulturelle Identität bedrohen, weiter aus. Hier muss meines Erachtens entschieden gegengesteuert werden. Wie kann das vonstattengehen? Dazu gibt es bislang nur sehr wenige Hinweise. Zum einen muss anerkannt werden, dass das Ideal des Nationalstaats mit einer ethnisch homogenen Bevölkerung nicht mehr haltbar ist. Die Wirtschaft und das Finanzwesen sind global vernetzt und haben bedeutende Machtpositionen inne. Zum anderen weist die demografische Situation der reichen Länder mit ihrer überalterten Einwohnerschaft auf die Notwendigkeit von Zuwanderung hin.

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Wenn Entwicklungen unerwünscht erscheinen, aber wie unvermeidbare Naturereignisse am Horizont sichtbar werden, ist es opportun, sich positiv darauf einzustellen, sich möglichst gut auf das Kommende vorzubereiten. Schließlich können wir uns in Hinblick auf das im Zuge des Klimawandels verstärkt zu erwartende Migrationsgeschehen weiterhin nicht länger abwartend verhalten. Das Thema darf nicht als Reaktion angegangen werden, sondern muss proaktiv gestaltet werden.

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Wie kann das gelingen? Wichtig ist, den Blickwinkel zu erweitern, die vorherrschende Vorstellung von Identität infrage zu stellen. Der Philosoph und Soziologe Zygmunt Baumann schreibt in seinem 2016 erschienenen Essayband Die Angst vor den Anderen das Gespenst der Unsicherheit müsse vertrieben werden, und in seinem letzten Buch Retrotopia erläutert er, dass die gegenwärtige Hinwendung zur Vergangenheit mit ihrem Patriotismus ein Fehler sei. Dagegen sieht er in dem vorhandenen Kosmopolitismus einen Ankerpunkt. Auch an die gegenwärtige Tendenz zu mehr Offenheit ließe sich m.E. anknüpfen. Entwicklungen zu mehr Diversität und der Kampf gegen Rassismus sind verstärkt zu beobachten und werden in der Gesellschaft positiv aufgenommen.

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Ich sehe weitere Möglichkeiten in der historisch-kulturellen Orientierung der neuen Bundesregierung. Da findet sich im Gegensatz zu der traditionellen Verehrung von Helden die Hinwendung zu den Opfern von Katastrophen als Richtlinie für das Erinnern und Gedenken. Im Gegensatz dazu muss die Heraufbeschwörung und der Beginn der kriegerischen Auseinandersetzung an der östlichen Grenze Europas als fehlgeleitete Hinwendung zur Vergangenheit interpretiert werden. Der russische Präsident Putin agiert offenbar mit dem Ziel einer Revision der geopolitischen Zustände. Die als Schmach empfundene Auflösung der Sowjetunion will der Machthaber tilgen und als starker Mann verehrt werden. (Das erinnert an den Slogan von Präsident Trump, der sein Land wieder groß und stark machen wollte.) Fakt aber ist, dass das kriegerische Gebaren wieder massenweise Menschen aus ihren Wohngebieten vertreibt. Als Flüchtlinge werden sie in anderen Ländern unterkommen müssen. Die Überwindung der Angst vor den Anderen ist eine langfristige Aufgabe. Sie gewinnt durch den sich stetig verstärkenden Klimawandel immer mehr an Bedeutung. Als Fazit gilt: Wir müssen die Kunst der Integration neu lernen, damit flüchtende Menschen nicht nur als Sicherheitsrisiko betrachtet, enthumanisiert und wie menschlicher Abfall behandelt werden – so Bauman 2016 in einem Interview des SPIEGEL N r.36.

 

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Ich hoffe sehr, dass nach der nervenaufreibenden Zeit mit der Pandemie eine Überarbeitung der Bildungsinhalte zugunsten solcher Überlegungen eingeläutet wird. Eventuell kann auch die Reisetätigkeit der deutschen Touristen umgewidmet werden, wenn man die Geografie und Politik fremder (Urlaubs-)Länder im Unterricht problemorientiert behandelt, und nicht nur das Gespräch über das Wetter und die Preise zulässt. Mehr zu wissen und mehr Verständnis für die Schicksale der Anderen aufzubringen wäre meines Erachtens ein guter Schritt in die richtige Richtung.

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Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Verleihung des Nobelpreises für Literatur im vergangenen Jahr an den gebürtigen Afrikaner Abdulrazak Gurnah für seine Romane, in denen die Kolonialgeschichte in Form historischer Fiktion behandelt wird. Gurnah ist im Jahr 1984 im Sultanat Sansibar geboren, das bis 1964 zum britischen Empire gehörte und zuvor mit der deutschen Kolonie in Ostafrika in enger Verbindung gestanden hat. In seinen Texten wird das mentale Fortwirken der Kolonisation beschrieben, das in den sechziger Jahren zu Unruhen und Fluchtbewegungen führte.

 

Das lenkt meinen Blick auf die lokalen Gegebenheiten meines Wohnorts. Im Bad Lauterberger Kurpark steht das meines Wissens weltweit einzige Denkmal des ehemaligen Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika, Hermann von Wissmann – in heroischer Pose. Es wurde 1908 im Kaiserreich errichtet und erscheint heute noch auf Postkarten gewissermaßen als Wahrzeichen des Städtchens. Die zugehörige Inschrift ehrt Wissmann als Deutschlands großen Afrikaner und endet mit dem Bekenntnis Das dankbare Vaterland. (Zum Hintergrund: Wissmanns Mutter lebte in Lauterberg, und so kam der Glanz des Kaiserreichs durch den berühmten Sohn in den Ort.) Mittlerweile wird die Verherrlichung des Kolonialismus weitgehend abgelehnt. So ist ein anderes Wissmann-Denkmal, das zuvor in Daressalam im heutigen Tansania stand und in den zwanziger Jahren nach Hamburg verbracht wurde, in den siebziger Jahren gestürzt und unbrauchbar gemacht worden. Auch das Standbild in Bad Lauterberg blieb nicht unumstritten. Hier wurde zu der Zeit eine lobpreisende Zusatztafel aufgestellt. Im vergangenen Jahr entschloss man sich nach heftigen Auseinandersetzungen schließlich, diese zu entfernen und eine neue Hinweistafel aufzustellen, die die Geschichte in ein kritisches Licht stellt und die Unterdrückung der kolonialisierten Menschen thematisiert.

 

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Und zudem: Bei einem Besuch auf dem lokalen Friedhof fällt der Blick auf die vielen Gräber der gefallenen Soldaten im zweiten Weltkrieg. Die Zahl der Toten insgesamt, die fern der Heimat ihr Leben „fürs Vaterland“ gelassen haben, ist bedeutend höher. In einem Heft im Heimatmuseum sind sie alphabetisch geordnet auf vielen Seiten aufgeführt. Dort findet sich auch der Name meines Onkels RUDOLF JANSSEN. Er war Ingenieur und in der allerletzten Phase des Krieges noch eingezogen worden. Im Februar 1945 ist er gefallen in der damaligen Sowjetrepublik Lettland! Seine Mutter erhielt erst Ende des Jahres die Todesnachricht. Vorher galt er als „vermisst“. Er wurde ein völlig sinnloses Opfer des verheerenden zweiten Weltkriegs.

 

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Hoffen wir, dass der gegenwärtige blutige Krieg umgehend beendet werden kann.  

Redaktionsschluss   Ende Febr. 2022

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Reflexionen zum Jahreswechsel 2022 / 2023

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Wir leben gerade in einer Z e i t e n w e n d e. Das sagt der Politiker Olaf Scholz, der Regierungschef des wiedervereinigten Deutschlands. Und alle stimmen zu. Unruhe hat sich ausgebreitet. Man schaut sich um und stellt fest, dass vor ca. 100 Jahren eine ähnliche Stimmungslage vorhanden war, die dann im zentralen europäischen Raum in eine Katastrophe mündete. In früheren Epochen gab es ebenfalls ausgeprägte historische Umbrüche, die den Zeitgenossen unheimlich und sicher auch unnötig vorkamen. Denken wir an das Datum vor 2023 Jahren, als das Christentum sich etablierte.

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Nun wird wieder Neues auf den Fundamenten der zuvor aufgerichteten und nun absterbenden Gewächse und Gebäuden entstehen. Oder sollte man sich den nahenden Weltuntergang vorstellen?

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Viele Menschen in den wirtschaftlich prosperierenden Zonen leben länger als in den vorherigen Jahrhunderten üblich. Ich gehöre zu denen, die schon 90Jahre lang - und vermutlich noch weiterhin – diese Erde bevölkern. Ist das gut oder schlecht? Man findet keine eindeutige Antwort. „Dann ist das eben so“, sagt meine sechs Jahre ältere Schwester öfters. Mir bereitet das Beobachten und Analysieren Vergnügen und die Ergebnisse möchte ich mitteilen. (teilen nennt man das heutzutage). 

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Man erkennt Krisen, die die gewohnte Welt erschüttern und überwunden werden sollen aber auch mögliche Weiterentwicklungen. Handelt es sich dabei einfach um Korrekturen? Soll der alte Weltzustand wieder hergestellt werden, der die Verwerfungen unserer Zeit hervorgebracht hat??

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Im Folgenden nehme ich mir konkret vier Punkte vor, wobei die Reihenfolge wegen der zahlreichen inhaltlichen Überschneidungen keine Vorgabe für die folgenden Ausführungen sein soll.

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An erster Stelle steht die Pandemie des Coronavirus mit den bekannten staatlichen Maßnahmen. Sie scheint nach nunmehr drei Jahren tatsächlich bei uns zu verschwinden, hinterlässt aber Krisen des Gesundheitssystems und hat psychosoziale Auswirkungen.

 

An die zweite Stelle möchte ich die Digitalisierung stellen, die mehr und mehr in alle Lebensbereiche eindringt und für ältere Menschen eine unbequeme Herausforderung darstellt. Erfasst davon sind neben der Verwaltung vor allem die Medien und der Kulturbereich. Dazu gehören auch die Segnungen und der Fluch der Künstlichen Intelligenz, kurz KI.

 

An dritter Stelle sei die Sorge um die Bewohnbarkeit des Planeten Erde genannt, der nicht mehr übersehbare Klimawandel. Die Wetterkapriolen und der Ressourcenverbrauch im Anthropozän sind inzwischen im Bewusstsein aller Menschen verankert. Unser Wirtschaftssystem mit dem verstetigten Wachstum ist infrage gestellt.

 

Und schließlich sind die blutigen Kriegshandlungen in der Ukraine zu nennen – mit ihren weltweiten Auswirkungen. Sie finden tagtäglich mit militärischen Mitteln und einem verheerenden Vernichtungspotenzial statt. 

 

Bezüglich der Aktualität hat der letzte Punkt den ersten, die Pandemie, gewissermaßen abgelöst. Die Auswirkungen haben globale Ausmaße, sind jedoch für den Osten Europas und besonders auch für Deutschland deutlich radikaler als in anderen Weltregionen. Somit erübrigt sich die Frage nach einer gewünschten Rückkehr zur Normalität des Lebens wie sie in der Zeit vor dem 24. Februar 2022 vorhanden war. Gegenwärtig geht es um blanke Notlösungen, schnelle Reaktionen, aber auch um grundlegende Veränderungen.

 

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Jede Nacht gibt es eine Videobotschaft aus Kiew von dem Präsidenten der Ukraine Wolodemir Selenskyj zur militärischen Lage.  Zudem können die Verteidigungsanstrengungen des Landes in allen Weltteilen medial verfolgt werden. Auch der Präsident des russischen Riesenreiches teilt der Welt von Zeit zu Zeit seine Meinung zu dem Ziel der sogenannten Spezialoperation mit. Als Begründung gilt für ihn die Notwendigkeit des Heimholens bzw. Einverleibens der Ukraine in die russische Föderation. Zugleich macht man sich auf der Gegenseite Gedanken über die persönliche Motivation Putins und den Zeitpunkt des Angriffs. Die Experten sind sich einig: Es ist der persönliche Ehrgeiz des nicht mehr jungen Machthabers, der nach zwanzigjähriger Regierungszeit die „Schmach“ des Untergangs der Sowjetunion tilgen will und dies mit militärischer Gewalt durchzusetzen versucht. Der demokratische Westen war völlig überrascht und sofort entschlossen, die Ukrainer bei der Verteidigung ihrer staatlichen Souveränität nach Kräften zu unterstützen.

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Die Frage nach einem möglichen Sieg einer der Kriegsparteien bleibt vorläufig offen. Die verhängten Sanktionen haben bisher (Januar 2023) zu keiner Entscheidung geführt. Dabei ist schon jetzt deutlich, dass dieser Krieg im Anschluss an die Corona-Pandemie den entscheidenden Anstoß für grundlegende gesellschaftliche Veränderungen in sehr vielen Teilen der Welt gegeben hat.

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Wirtschaftliche Einbrüche sind vielerorts wahrnehmbar, Inflation ist keine in weiter Ferne liegende Größe mehr. Hierzulande ist sie beim Verbraucher bereits angekommen. Sparsamkeit ist angesagt und insbesondere im Energiebereich vonnöten. Der sorgfältige Umgang mit den natürlichen Ressourcen ist massiv in den Fokus eines Jeden gerückt. Somit wird nun der zuvor abgelehnte und viel geschmähte Verzicht erzwungenermaßen zum Wohle der Umwelt akzeptiert.

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Eine weitere Veränderung betrifft den Umgang mit Migranten in Deutschland. Manch einer wundert sich, dass hierzulande immer noch Möglichkeiten zur Aufnahme von Fremden bestehen – obwohl schon seit Jahren verkündet wird, dass das Limit erreicht sei. Die große Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine heißt man willkommen. Man setzt sogar einen neuen Schwerpunkt. Integration wird erstmals auch als Anforderung an die Aufnahmegesellschaft definiert. So hörte ich vor kurzem Saskia Esken, die Vorsitzende der SPD, sagen: „Unsere Sprache deutet schon darauf hin. Es gibt sich integrieren aber auch jemanden integrieren!“  Meines Erachtens zeichnen sich hier Umrisse einer neuen Normalität beim Umgang mit Flüchtlingen ab, obwohl die Aussage in erster Linie im Zusammenhang mit dem Fachkräftemangel in Deutschland zu verstehen ist.

 

Der Krieg in der Ukraine mit seinem zerstörerischen Potenzial, dem Verbrauch an Kriegsmaterial, der Vernichtung von Menschen, ihrer Wohnungen, der städtischen Infrastruktur und die Auslöschung ganzer Dörfer ist zugleich eine Katastrophe für den gesamten Erdball. Die bisherigen Bemühungen des Klimaschutzes verblassen dagegen – und doch müssen sie weiterverfolgt werden.

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Die auf uns zukommenden Begrenzungen des Lebenszuschnitts, die für die Verwirklichung auch selbst der bescheidensten Klimaziele notwendig sind, scheinen für den Einzelnen gegenwärtig kaum begreifbar. Dabei geht es um die objektiven Grenzen des materiellen Wachstums, die spätestens seit den siebziger Jahren bekannt sind, aber unser Alltagsleben mit dem stetig steigenden Wohlstand bisher kaum betroffen haben. Die Eigendynamik der Märkte, des Kerns unseres erfolgreichen Wirtschaftens, sei mit Null-Wachstum nicht vereinbar, sagen die Ökonomen. Jedoch muss in der gegenwärtigen Situation mit den sich überlappenden Krisen das bislang Undenkbare möglich sein! Tatsächlich scheint sich jetzt eine Wende zum Positiven aufzutun. Darauf verweist der SPIEGEL Nr. 1, 2023. In seiner Titelgeschichte wird die Vision eines s a n f t e n Kapitalismus aufgezeigt. Damit könnten die Auswüchse der bisherigen Konsum- und Selbstverwirklichungsgesellschaft zur Disposition gestellt werden.

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Möglicherweise ist der Siegeszug der Digitalisierung mitsamt seinen Auswirkungen auf das Alltagsleben hier ein entscheidender Faktor.

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Konkret sind folgende Fragen zu stellen und Antworten zu suchen:

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Ist die digitale Revolution für positive Entwicklungen tauglich? Kann sie die umweltzerstörerische Alltagskultur mit ihren Verschleißerscheinungen einhegen? Oder ist das Gegenteil wahrscheinlicher?

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Als positiver Beitrag wird einhellig eine Vereinfachung in der Verwaltungsbranche gesehen. Viele bürokratische Arbeitsgänge sind schneller, effektiver und umweltschonender zu erledigen. Auch im privaten Bereich gibt es gute neue Möglichkeiten. Zum Telefonieren kam das Kommunizieren per WhatsApp, zum Briefe verschicken die E-Mail. Außerdem stehen durch das Internet Wissensquellen in größerer Zahl zur Verfügung und sind leichter zugänglich, so etwa bei Wikipedia. Schließlich sind auch Lieferketten betroffen, Bestellungen können online nachverfolgt werden. Außerdem gibt es viele Serviceangebote, z.B. sind Bahnfahrpläne und Bahntickets ohne Warteschlangen am Schalter schnell zu bekommen. Marketingangebote kommen nebenbei durch den Bildschirm ins Haus. Nachrichten können jederzeit schnell abgerufen werden. Kurz: Vieles geht online leichter und schneller.

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Allerdings muss man dabei fragen: Was macht das mit uns? Wir sind doch auch ein Teil dieser Welt, verletzbar als Menschen wie die Tiere, Pflanzen und andere Objekte der Biosphäre.

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Die jüngere Generation scheint von der Digitalisierung weitgehend zu profitieren. Sie kann sich ein Leben ohne diese neuen Möglichkeiten der Techindustrie kaum noch vorstellen und freut sich über je neue Updates, die uns Älteren Mühe machen. Man könnte nun denken alles geht smarter und damit ist ein angenehmer Fortschritt möglich geworden, womit die Kräfte, die die Umwelt zerstören, zurückgefahren werden können.

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Doch ist diese Einschätzung zu einfach. Die Faszination durch die digitale Erstellung von Texten und Bildern bis hin zu persönlichen Avantaren im Zusammenhang mit der künstlichen Intelligenz setzt zugleich auch unendliche Möglichkeiten des Missbrauchs frei. Dadurch kann die Wirtschaft und auch der leibhaftige Mensch zum Sklaven der virtuellen Welt werden. So etwa wie der woke Kapitalismus durch die Möglichkeiten der modernen Technologien ein hohes Maß an Selbstverwirklichung anfeuert, das im Gefolge den materiellen Konsum unnötigerweise anschwellen lässt.

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Die schnellen Abläufe der digitalen Aktivitäten können auch zu einer Überforderung der Aufmerksamkeitsfähigkeit werden. Die industrielle Revolution nahm den Menschen viel schwere körperliche Arbeit ab. Die jetzige Revolution dringt in den Bereich des Geistigen. Ist unsere Spezies diesen Zumutungen gewachsen? Die Älteren trauern eher dem „analogen“ Leben nach. Und wie steht es mit den Jüngeren? Sie leben in einer Gegenwart, die sie zu meistern imstande sind, haben aber zu einem großen Teil Bedenken zur Gestaltung der Zukunft. Zu ihnen gehören die Aktivisten, die die Bewegung „Fridays for Future“ unterstützen und die Mitglieder der „Letzten Generation“. Das sind meines Erachtens mutige Menschen, die sich als Gegenkräfte zum Mainstream mit unkonventionellen Aktionen an die Öffentlichkeit wenden. Ist es doch ein sehr starkes Zeichen des Protestes, wenn sich jemand körperlich auf dem Asphalt festklebt, den Autoverkehr behindert, um auf das globale Problem der Erderwärmung hinzuweisen. Auch die Störung des Kulturbetriebs in Museen ist ein wirksames Zeichen gegen das altbürgerliche „weiter so“.

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Die glitzernde Welt des Shoppens, der Traum vom ewigen Wachstum muss zweifellos ein Ende finden. Die Konsumeuphorie mit Hilfe der Netzwelt lässt sich vermutlich auch kaum noch steigern. Jedoch sieht man bislang noch kaum Anzeichen des Bremsens und keinen Rückwärtsgang bei den technischen Entwicklungen.

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Einzig das Gefühl der Überforderung könnte m.E. eine Wende im Denken auslösen- und ein Streben des Zurück oder Vorwärts zu einem Leben im Einklang mit der Natur hervorrufen. Wir beobachten körperliches Unwohlsein in erhöhtem Maße – und das nicht nur wegen der Corona-Pandemie, sondern auch im Zusammenhang mit dem digitalen Trend. Alles kann und muss gegenwärtig sehr schnell gehen. Burn-out Gefühle und damit verbundene Krankheitssymptome gehören zu den Klagen des „normalen“ Alltags. Die Gesundheitsstationen, praktischen Ärzte und Krankenhäuser melden Überlast. Geistig-seelische Unruhe herrscht vielerorts. Eine Sehnsucht nach Ruhephasen, unverplanter Zeit breitet sich aus. - Auch das gehört zur Zeitenwende.

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Positiv zu sehen ist m.E. der neue Trend zum reizarmen, einfachen Leben und eine erhöhte Achtsamkeit gegenüber allen Wesen der Schöpfung, Menschen, Tieren und Pflanzen. Damit einher geht eine Hinwendung zum biologischen Landbau. Überproduktion und Verschwendung wird angeprangert. Zudem wird die stetige Verfügbarkeit aller Produkte und Zutaten bei der Essensbereitung verachtet und ein geringeres Sortiment nicht als ein Verlust von Lebensqualität angesehen. Regionale Produkte gewinnen an Wert, wodurch zugleich klimaschädliche Transporte reduziert werden. Damit erscheint gesunde Ernährung und Lebensführung in neuem Licht.

Hier lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit, denn schon von alters her wird die Gesundheit als hohes Gut geschätzt und nicht nur dem Fortschritt der Medizin überlassen. In dem Zusammenhang ist die Bewegung der „Reformhäuser“ seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu nennen. Unsere Mutter war eine aktive Vertreterin dieser Richtung. Sie hat zwei Weltkriege erlebt, kritisierte beständig die Übersättigung der Wohlstandsgesellschaft und war überzeugt, dass das Glück im Leben nicht in der Anhäufung von Reichtum und dessen Präsentation liegt. Insbesondere bei der Arbeit im Garten und dem Anbau von Gemüse und Obst fühlte sie sich bis ins hohe Alter wohl. Nicht industriell verarbeitete Lebensmittel waren für sie besonders wertvoll.

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Die letzten Jahrzehnte ihres Lebens verbrachte sie in Bad Lauterberg und wusste die Vorzüge des Kurortes zu schätzen: der Wald, das Wasser und die Luft waren die entscheidenden Garanten für die Qualität des Wohnsitzes.

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Nun bin ich in ihre Fußstapfen getreten und habe mich mit der örtlichen Geschichte vertraut gemacht: Bad Lauterberg folgt seit fast 100 Jahren der Lehre Kneipps und ist als Kneipp-Heilbad staatlich anerkannt. Vor dem Haus des Gastes befindet sich eine Büste von Kneipp mitsamt der Aufschrift ER WIES UNS DEN WEG ZU GESUNDHEIT UND LEBENSFREUDE. Doch wer war dieser Mann, der sagte: Gesundheit bekommt man nicht im Handel, sondern durch den Lebenswandel. Und worauf beruht seine Lehre? In den letzten Monaten habe ich mich mit dieser Frage beschäftigt und einen kurzen Text verfasst, der auf einer Info-Tafel neben dem Denkmal erscheinen wird. Den Entwurf dazu füge ich hier bei.

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Sebastian Kneipp wurde 1821 als Sohn eines armen Webers in Stephansried bei Ottobeuren geboren. Schon früh war es sein Wunsch gewesen, Priester zu werden. Aber erst nach zehnjährigen Bemühungen um Unterstützung konnte er im Alter von 23 Jahren in ein Gymnasium eintreten und danach mit dem Studium beginnen.

Den erforderlichen Anstrengungen hielt seine Gesundheit nicht stand und er erkrankte lebensgefährlich. Da fiel ihm das Büchlein von Siegmund Hahn über die Wasserbehandlung in die Hände. Zum Letzten entschlossen tauchte er bei Dillingen den ganzen Körper in die eiskalte Donau bis zum Hals unter – und empfand Erleichterung. Diese Eigenbehandlung setzte er mit Erfolg fort, konnte das Studium beenden und 1952 die Priesterweihe empfangen. Währenddessen half er seinen kranken Mitmenschen auf Wunsch mit Rat und Tat. Allerdings sahen seine Vorgesetzten, ebenso wie manche Ärzte und Apotheker, das nicht gern und suchten diese Naturheilungen zu unterbinden.

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Vom Bistum Augsburg wurde er zunächst an verschiedenen Orten eingesetzt, bis er 1855 eine feste Anstellung als Beichtvater des Dominikanerklosters in Wörishofen bekam. Später übernahm er zudem noch die Pfarrei und war dort bis zu seinem Lebensende 1897 seelsorgerisch tätig. Nebenher entwickelte er sein Naturheilverfahren weiter zum Segen der Armen und Kranken.

Die Erfolge der Heilbehandlung wurden weit und breit bekannt und anerkannt. Mehr und mehr Gäste vom In- und Ausland fanden sich in Wörishofen ein. Kneipps Popularität wuchs insbesondere, nachdem zwei Bücher von ihm erschienen waren:  Meine Wasserkur (1886) und So sollt ihr leben (1889).

Da lesen wir:

Mich hat nicht der Beruf oder die Vorliebe für das Medizinieren dazu gebracht, die heilsamen Wirkungen

des Wassers zu erproben, sondern die bittere Not. Not lehrt beten und seinen Verstand gebrauchen!

Nach dem Urteil zweier vorzüglicher Ärzte war ich im Jahre 1847 am Rande des Grabes; beide hielten

mich für verloren; durch die Hilfe des Wassers allein lebe ich heute noch und bin munter und guter Dinge.

Allerdings hat Letzteres nicht allein das Wasser zuwege gebracht; ich habe meinen vorzüglichen

Gesundheitszustand gewiss auch meiner einfachen, von der Gewohnheit gar vieler Menschen allerdings

etwas abweichenden Lebensweise zu verdanken. (Einleitung 1889)

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Die ganzheitliche Gesundheitslehre Kneipps beruht auf fünf Prinzipien:

Hydrotherapie - Kräuterlehre - Bewegung an frischer Luft - gesunde Ernährung - vernünftige Lebensordnung

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In Bad Lauterberg wurden die Kneipp-Kuren 1926 eingeführt. Hier gab es bereits eine Kaltwasserheilanstalt nach Prießnitz, begründet 1839 von dem Sanitätsrat Dr. Ernst Ritscher. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich der Kurort zu einem Zentrum der Kneipp-Bewegung im norddeutschen Raum.

2016 wurde das KNEIPPEN als immaterielles Kulturerbe Deutschlands von der UNESCO anerkannt.

 

 

 

Hoffen wir, dass man baldigst einen stabilen Ausweg aus dem aktuellen Kriegsgeschehen in der Ukraine finden wird und den besorgniserregenden Zustand der natürlichen Umwelt, die Klimakrise, zumindest zu mildern vermag, um den kommenden Generationen eine existenzsichernde Lebensgrundlage übergeben zu können!

 

Redaktionsschluss: Ende Januar 2023

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1901 - 1995

geb. 1927

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